Denkmale sind nachhaltig?

Stadtführung Brückenstraße 4, 73734 Esslingen am Neckar, DE

Denkmale sind nachhaltig – das hört sich erst einmal selbstverständlich an. Sie sind doch aus natürlichen, nachwachsenden Baustoffen errichtet – also nachhaltig! Aber stimmt das so? Und ist es wirklich so einfach? Ich möchte Sie einladen, diesen Fragen auf einem Spaziergang durch die Altstadt von Esslingen nachzuspüren.

Autor: Peter Dietl

20 Stationen

1. Brückenkopf Pliensaubrücke

Brückenstraße 4, 73734 Esslingen am Neckar, DE

Herzlich willkommen bei dieser Führung.
Mein Name ist Peter Dietl.

Ich werde Sie mit dieser digitalen Führung zu einigen Highlights der insgesamt – als sogenannte Gesamtanlage – denkmalgeschützten Innenstadt der ehemaligen Reichsstadt führen. Und an jeder Station äußere ich ein paar ganz persönliche Überlegungen zur Nachhaltigkeit von Baudenkmalen und Gebäuden. Damit möchte ich Sie anregen, sich Ihre eigenen Gedanken zu machen und sich eine eigene Meinung zu der Frage zu bilden, ob Denkmale nachhaltig sind.

Vielleicht sind Sie ja ganz anderer Meinung als ich! Das freut mich – fast – genau so, wie wenn Sie mir zustimmen. Denn wenn Sie darüber nachdenken, dann ergreifen Sie eine der Chancen, die Denkmale bieten – die Chance, über die Beschäftigung mit ihnen neue Ideen und Gedanken zu entwickeln. Nutzen Sie die "Chance Denkmal", lassen Sie das Motto des diesjährigen Tags des offenen Denkmals konkret werden.

Viel Freude bei Ihrem Rundgang!


Wo sind Sie jetzt?

Sie befinden sich am südlichen Ende der Pliensaubrücke.

Errichtet wurde die Steinbrücke vermutlich ab 1287 unter König Rudolph I. von Habsburg. Seit ihrer Fertigstellung vor 1296 bildete sie den wichtigsten Zugang zur Stadt. Über sie führte ein wichtiger Handelsweg des Mittelalters und der frühen Neuzeit in die zu einem großen Teil vom Handel lebende Reichsstadt.

Bei der denkmalgeschützten Pliensaubrücke handelt es sich um eine der ältesten erhaltenen Steinbrücken Deutschlands. Und sie wird bis heute genutzt. Bis 2007 auch für den motorisierten Verkehr.


Warum startet die Führung hier?

Die immerhin mindestens 724 Jahre alte Bogenbrücke aus Sandsteinen wurde 2019-2020 saniert. Dafür wurden laut Aussage des Tiefbauamtes auf der Hompage der Stadt 2,9 Mio. € veranschlagt.

Etwas flussaufwärts sehen sie die moderne Brücke, die die Pliensaubrücke seit 1973 ersetzt. Auch diese Brücke, die Vogelsangbrücke, wird seit 2019 saniert. Veranschlagt sind hierfür laut Tiefbauamt 19,4 Mio. €. Danach soll sie für die nächsten 20 Jahre wieder einsatzfähig sein. Dann ist das moderne Bauwerk gerade mal 67 Jahre alt.

Denkmale sind nachhaltig? Hier sieht das eindeutig so aus – sie halten länger! Aber ist dieser Vergleich fair?
Deshalb vorab erst einmal ein paar Gedanken dazu, was nachhaltig bedeutet:

Schlagen Sie im Duden nach, so finden Sie unter dem Stichwort zwei Bedeutungen.

1. längere Zeit anhaltende Wirkung
2.a. forstwirtschaftliches Prinzip, nach dem nicht mehr Holz gefällt werden darf, als jeweils nachwachsen kann
(Gebrauch: Forstwirtschaft)
2.b. Prinzip, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann
(Gebrauch: Ökologie)

Zumindest was die erste Definition betrifft, erfüllt das Denkmal Pliensaubrücke das Kriterium der Nachhaltigkeit. Für die aktuelle Diskussion viel wichtiger ist aber Definition 2.b. Diese liegt den Nachhaltigkeitsstrategien von Bundesregierung, EU und Vereinten Nationen zugrunde. Und allen gemeinsam ist, dass für sie Nachhaltigkeit eine Art der Bewirtschaftung, ein Handlungsprinzip ist, keine Eigenschaft von Bäumen, Gebäuden oder sonst etwas.

Dabei werden als wichtige Strategien, um eine nachhaltige Bewirtschaftung zu erreichen, oftmals genannt:
• Suffizienz: Verringerung von Produktion und Konsum
• Effizienz: ergiebigere Nutzung von Material und Energie
• Konsistenz: naturverträgliche Stoffkreisläufe, Wiederverwertung, Müllvermeidung

Behalten Sie das im Kopf, wenn Sie jetzt weitergehen bis zur Mitte der Brücke.

2. Pliensaubrücke Mitte

Pliensaubrücke, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Sie stehen jetzt am nördlichen Ende des Denkmals, an der Nahtstelle zu einem neuzeitlichen Brückenteil. Diese moderne Brücke ersetzt drei der ursprünglichen Brückenbögen. Zur Zeit der Erbauung führten diese direkt auf den vor Ihnen zu sehenden ehemaligen Torturm zu, so dass man durch ihn in die Stadt gelangte.

Grund für den Abbruch war die Verlängerung des Schifffahrtskanals bis nach Plochingen. Um den Schiffen die Durchfahrt unter der Brücke zu ermöglichen, wurden 1970 die drei stadtseitigen Brückenbögen geopfert, und die neuzeitliche Konstruktion vor Ihnen errichtet. Auch hier zeigen sich nach gerade mal 50 Jahren gravierende Schäden am Brückenbauwerk. Die seitlichen Bereiche mussten aus Sicherheitsgründen gesperrt werden. Daher die Absperrung auf beiden Seiten.

Und lassen Sie sich nicht verwirren, die Bauzäune auf dem historischen Teil der Brücke hinter Ihnen haben nichts mit der Standsicherheit des Bauwerks zu tun. Hier geht es um Haftungsfragen, sollte ein Radfahrer verbotenerweise am Rand fahren und über die Brüstung stürzen. Schön wäre es, wenn darauf bald wieder verzichtet werden könnte! Und noch schöner, wenn die Verantwortlichen den Radfahrern so viel Selbstverantwortung und Verstand zutrauen würden, dass dies ohne ein den Eindruck der historischen Brücke beeinträchtigendes hohes Geländer passieren würde.


Warum hier ein Stopp??

Ich möchte hier nicht auf moderne (Spann-)Betonkonstruktionen eingehen, vielmehr möchte ich den Vergleich zum Anlass nehmen, über Gebäude und ihre Rolle bezüglich der Nachhaltigkeit nachzudenken. Was können Gebäude zur Nachhaltigkeit beitragen?
Was ist nachhaltiges Bauen?

Sehen Sie bei Wikipedia unter dem Stichwort nach, lesen Sie die folgende Definition:

Ein nachhaltiges Gebäude zeichnet sich durch seine hohe ökologische, ökonomische und sozio-kulturelle Qualität aus. Diese drei Aspekte bilden die drei Hauptsäulen der Nachhaltigkeit. Die sie charakterisierenden Kriterien werden nicht isoliert, sondern in einem Gesamtzusammenhang betrachtet. Ausgangspunkt und wichtige Voraussetzung, um objektive Aussagen über die nachhaltige Qualität eines Gebäudes machen zu können, ist die Betrachtung der gesamten Lebensdauer eines Bauwerks. Die Lebensdauer eines Gebäudes umfasst die Phasen der Planung, der Errichtung, der Nutzung, des Betriebs und des Abrisses bzw. des Rückbaus. Diese unterschiedlichen Phasen eines Gebäudes stellen gemeinsam seinen Lebenszyklus dar. Der Lebenszyklus bildet so den zeitlichen Rahmen zur Beurteilung der Nachhaltigkeit. Alle Phasen des Lebenszyklus müssen bei der Beurteilung der Nachhaltigkeit eines Gebäudes einbezogen werden.

Um das greifbarer zu machen, haben sich verschieden Zertifizierungssysteme herausgebildet. Sie versuchen die Übereinstimmung eines Gebäudes mit dem Handlungsprinzip der Nachhaltigkeit, wie es vorher beschrieben wurde, zu bewerten.

Die Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen, eines der wichtigen Zertifizierungssysteme, ergänzt dabei die drei zentralen Kriterien
• Ökologische Qualität
• Ökonomische Qualität
• Sozio-kulturelle Qualität

um drei weitere Kriterien, die für die nachhaltige Nutzbarkeit und Bedeutung eines Gebäudes ebenso wichtig sind
• Technische Qualität
• Prozessqualität
• Standortqualität

Diese Kriterien behalten Sie bitte auch im Hinterkopf, wenn Sie jetzt weitergehen - hinein in die historische Stadt.

3. Eingang Pliensaustraße

Pliensaustraße 56, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Sie blicken jetzt in die Pliensaustraße. Den ehemaligen Torturm, den Pliensauturm, und die Eisenbahn haben Sie im Rücken.

Die Pliensaustraße ist die Hauptachse der – parallel zum Bau der Pliensaubrücke – vermutlich ab 1287 mit einer Stadtmauer umgebenen südlichen Vorstadt. Die Straße verbindet in einer ganz flachen S-Kurve die Pliensaubrücke mit der Inneren Brücke, welche von der mittelalterlichen Vorstadt in die bereits im frühen 13. Jh. ummauerte staufische Kernstadt führt. Mit der Aufgabe der Stadtmauern und der Bebauung der Inneren Brücke sind die mittelalterliche Vorstadt um die Pliensaustraße und die Kernstadt heute zusammengewachsen. Doch das werden Sie später selbst sehen.


Warum hier ein Stopp??

Wenn Sie die Straße hinaufblicken, sehen Sie Gebäude aus unterschiedlichen Epochen der Stadtentwicklung. Darunter auch einige denkmalgeschützte Gebäude. Das nehme ich zum Anlass, über das Thema Nachhaltigkeit bei Baudenkmalen, Nachhaltigkeit im Baubestand nachzudenken.

Die Bauten sind schon da. Ihre materiellen Eigenschaften sind auch bereits da. Ebenso ihre ökonomischen und sozio-kulturellen Qualitäten, ihr Standort ist gegeben. Die Energie, die Rohstoffe, die für ihrer Errichtung notwendig waren, sind bereits verbraucht! Möglicherweise sind sie Teil einer städtebaulichen Struktur und tragen zum Erscheinungsbild der Stadt bei.

Verändert das die Bewertung des Gebäudes hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit den Prinzipien nachhaltigen Handelns?

Grundsätzliche Veränderungen wichtiger Kennwerte können im Bestand möglicherweise nur durch einen Abbruch und Neubau erreicht werden. Aber wächst dann etwas Besseres nach? Und "lohnen" sich Abbruch und Neubau – oder vielleicht doch eher ihr Erhalt? Wie kann hier bilanziert werden – unter Berücksichtigung aller Kriterien? Wiegen die neuen Qualitäten die Verluste auf?

Schließlich kann diese Abwägung bei Denkmalen überhaupt stattfinden? Der Denkmalschutz setzt erst einmal den Erhalt voraus. Und dies aufgrund anderer Kriterien. Laut dem baden-württembergischen Denkmalschutzgesetz sind es künstlerische, heimatgeschichtliche oder wissenschaftliche Gründe, die Gebäude für die Gesellschaft so wertvoll machen, dass sie zu Denkmalen werden. Begründen auch diese Werte eine Nachhaltigkeit von Gebäuden?

Wenn man die von Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen zu den Kriterien der Nachhaltigkeit gezählte sozio-kulturelle Qualität mitberücksichtigt, müsste das so sein. Vielleicht muss man dann die Nachhaltigkeit von Bestandsgebäuden mit Prof. Thomas Will als deren "dauerhafte (praktische) Relevanz" definieren.

Was kann diese begründen? Dazu werden Sie und ich uns im Folgenden weitere Gedanken machen.

4. Drogeriemarkt Müller

Pliensaustraße 34, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Auf der rechten Straßenseite befindet sich der Drogeriemarkt Müller. Anders als die anderen Gebäude steht das Gebäude vollständig frei. Eine seltene Situation in einer mittelalterlichen Altstadt.

Eine Spur, die es lohnt, verfolgt zu werden: Hier stand die "Kirche" der mittelalterlichen Vorstadt in der Pliensau, die Jakobskapelle, 1313 erstmals urkundlich erwähnt, nach der Reformation profaniert, danach als Pferdestall genutzt. Erst Mitte des 19. Jh. wurde die ehemalige Kapelle abgebrochen und durch einen Neubau ersetzt.

Im Kern ist das heutige Gebäude noch dieser Bau des 19. Jhs., wenn auch ziemlich verändert. Und er wurde – wie sein Vorgänger – umgenutzt:

Erst war hier Sigles Bierhalle untergebracht,
dann das Polster-, Tapezier- und Lederwarengeschäft Fröhlich,
dann ein Warenhaus, später Kaufhaus, das erste Kaufhaus in der Stadt,
seit 1983 die Drogerie Müller.


Warum hier ein Stopp??

Das Gebäude ist in mehrerlei Hinsicht interessant und regt zu Gedanken über Nachhaltigkeit im Baubestand an. Zum einen wegen des Baumaterials der Kapelle, das uns später an anderer Stelle wieder begeben wird. Zum anderen wegen der wiederholten Umnutzung. Schließlich aber wegen des Abbruchs und Neubaus an dieser Stelle. Und darauf soll hier eingegangen werden, die anderen Themen lassen sich bei weiteren Stopps noch besser diskutieren.

Ein Abbruch ist immer erst einmal eine Vernichtung von Material und Energie. Heute gilt das noch mehr als vor dem 20. Jh. Davor wurde zumindest viel Baumateriel wiederverwendet, Dessen ungeachtet, auch früher wurde die Energie, die in die Herstellung des Gebäudes investiert wurde, mit dem Abbruch vernichtet. Und für den Abbruch wurde dafür weitere Energie aufgewandt.

Mit dem verschwenderischen Umgang unserer Zeit mit dem Material, mit dem hohen Energieeinsatz in der Produktion von Baumaterialien sowie bei Bau und Abbruch erhöht sich dieser Energieverlust weiter. In der Diskussion über Nachhaltigkeit wird die im Gebäude gespeicherte, mit seinem Abbruch vernichtete Energie als "graue Energie" bezeichnet.

Diese graue Energie sowie die Energie für Abbruch und Neubau sind bei einer ganzheitlichen Betrachtung des Baugeschehens unter Nachhaltigkeitsaspekten zu berücksichtigen. Gelingt es mit einem Neubau, innerhalb der Lebenszeit desselben im Betrieb im Vergleich zur weiteren Nutzung des Vorgängerbaus die Summe dieser Energiebeträge einzusparen? Nur dann sind Abbruch und Neubau energetisch zu rechtfertigen.

Und dabei spielen andere Kriterien noch keine Rolle. Wenn ich mir hier eine gotische Kapelle vorstelle und diese mit dem heutigen Gebäude vergleiche, erscheint eine Berücksichtigung weiterer – sozio-kultureller – Kriterien auf jeden Fall überlegenswert. Doch dazu später mehr.

5. Innere Brücke

Innere Brücke 15, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Sie stehen jetzt unterhalb der sogenannten Inneren Brücke. Die Grünanlage, in der Sie sich befinden, die sogenannte Maille, war ursprünglich ein Wasen im Flussbett des Neckars. Die Brücke verbindet oberhalb des Flusses und der Grünanlage den bereits im frühen 13. Jh. befestigten Kernbereich der Altstadt Esslingens mit der Stadterweiterung des späten 13. Jh., die früher bereits erwähnte Vorstadt in der Pliensau.
Die Brücke ersetzte einen vermutlich hölzernen Vorgängerbau. Errichtet wurde sie nach 1286. Nach und nach wurde sie überbaut, die Brückenhäuschen auf der Seite zur Maille stammen aus dem 18. Jh., die großen Geschäftshäuser auf der gegenüberliegenden Seite stammen aus dem 16. bis 19. Jh.


Warum hier ein Stopp??

Wieder haben Sie hier ein denkmalgeschütztes Brückenbauwerk vor sich, und wie die Pliensaubrücke ist sie gute 730 Jahre alt. Und sie funktioniert weiterhin, auch für den motorisierten Verkehr. Allerdings hat sich dieser seit Einrichtung der Fußgängerzone 1972 auf den Lieferverkehr reduziert.

Heißt das, historische Steinbogenbrücken sind einfach „nachhaltiger“ als moderne Konstruktionen aus Stahl und Beton?

Wenn es nur um die lange Lebensdauer geht, dann stimmt dieser Schluss vermutlich. Aber wie wir vorher gehört haben, bedeutet nachhaltiges Bauen Bauen in Übereinstimmung mit dem Handlungsprinzip der Nachhaltigkeit. Und zu den Kriterien dafür zählt nicht nur die technische Qualität. Ein weiteres Kriterium, die ökonomische Qualität, möchte ich an diesem Beispiel diskutieren.

Auf der Homepage der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen lesen wir dazu: „Die Ökonomie bezieht sich darauf, dass wir Gebäude wirtschaftlich sinnvoll und über deren gesamten Lebenszyklus betrachten.“ Über den Lebenszyklus betrachtet war die Errichtung der Inneren Brücke sicher wirtschaftlich und damit nachhaltig. Aber gälte dies auch für die Neuerrichtung einer Steinbogenbrücke in unserer Zeit?

Die wirtschaftlichen Bedingungen und Produktionsweisen haben sich grundlegend verändert. Der Wert von Material und Arbeitskraft, deren Verhältnis zueinander haben sich maßgeblich gewandelt. Auch die Bedeutung von Bauzeiten, die ökonomische Wertung der sich daraus ergebenden Folgen sind ganz andere. Deutlich wird hier die Zeitgebundenheit der ökonomischen Bewertung in Abhängigkeit vom wirtschaftlichen System. Insofern können historische Gebäude auch unter ökonomischen Gesichtspunkten anders betrachtet werden als zeitgenössische, ja sie müssen es vermutlich.

Das ist aber noch keine Antwort auf die Frage, ob die Errichtung einer Steinbogenbrücke heute unter ökonomischen Gesichtspunkten als nachhaltiges Bauen betrachtet werden müsste. Ich möchte Ihnen diese Antwort auch nicht abnehmen. Die Antwort darauf hängt sicher davon ab, ob wir im Einzelfall oder auch im Allgemeinen in solchen Zeiträumen denken und planen können, wie sie sich bei der Innere Brücke als Nutzungsdauer ergeben haben.

Damit möchte ich es hier belassen.

6. Palmscher Bau

Fischbrunnenstraße 8-10, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Die heutige Gaststätte „Palmscher Bau“ wurde 1708-11 als repräsentativer Wohnsitz für Jonathan Palm errichtet, einen Esslinger Bürger, der in Wien in Juwelen- und Bankgeschäften tätig war. Das dreiflügelige Barockpalais sollte den finanziellen Erfolg und gesellschaftlichen Aufstieg seiner Familie deutlich machen. Das gelang, der Bau war bei seiner Fertigstellung das prächtigste Privatgebäude der Stadt.

Die Chance hier im Zentrum der Stadt an so prominenter Stelle zu bauen, ergab sich nach dem Stadtbrands von 1701. Bis 1708 gelang es Palm, insgesamt 8 Hofstätten zu erwerben. Und was er darauf bauen ließ, kann sich bis heute sehen lassen.


Warum hier ein Stopp??

1708 erwirbt Palm nicht nur die letzten Parzellen für seinen Bauplatz, sondern auch die St. Jacob-Kapelle auf Abbruch, um deren Steine als Baumaterial zu gewinnen – jene Kapelle, die an der Stelle des heutigen Drogeriemarkts Müller stand.

Recycling-fähiges Baumaterial zu verwenden, ist ohne Zweifel eine Voraussetzung für ökologische Qualität im nachhaltigen Bauen. Diese Qualität können wir demnach nicht nur der Jakobskapelle, sondern auch dem Unteren Palmschen Palais, wie der Palmsche Bau offiziell genannt wird, zusprechen.

Dass Recycling von Baumaterial und vielleicht auch die ökologische Qualität aber nicht der einzige Grund für eine Bewertung eines Gebäudes als Beispiel für nachhaltiges Bauen gelten können, erscheint im vorliegenden Fall offensichtlich. Das Recycling-Material wurde mit dem Verlust einer vermutlich wertvollen Architektur erkauft. Glücklicherweise wurde mit dem Material wieder ein Bauwerk geschaffen, das die Qualität aufweist, um von unserer Gesellschaft als Kulturdenkmal erkannt zu werden. Aber es gingen immaterielle Werte verloren.

Dazu später mehr.

7. Südseite Altes Rathaus

Rathausplatz 14, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Der mächtige Fachwerkgiebel vor Ihnen ist die Südseite des sogenannten Alten Rathauses. Das Gebäude wurde 1424 als städtisches Kauf- und Steuerhaus errichtet. In der Halle des Erdgeschosses waren die Brot- und Fleischlauben untergebracht. Darüber befindet sich bis heute ein großer Tanz- und Festsaal, der Bürgersaal. Auf der Nordseite des Gebäudes wurden zusätzlich Räume für die Steuerverwaltung untergebracht.

Das Gebäude gilt als Paradebeispiel für den oberdeutschen Fachwerkbau des Spätmittelalters. Sehen Sie sich in Ruhe die klare Ordnung, die Konsequenz und die wunderschöne Detaillierung dieses Holzbaus an.


Warum hier ein Stopp??

Und jetzt gucken Sie sich an, aus was der Bau errichtet wurde. Vor allem Eichenholz für die Balken, Nadelholz für die Böden, Holzstaken, Weiden und Lehm für die Füllungen … alles nachwachsende oder aber nahezu unerschöpflich vorhandene und recyclingfähige Materialien.

Die ökologische Qualität dieser Bauweise ist offensichtlich – ganz nach dem „Prinzip, nach dem nicht mehr verbraucht werden darf, als jeweils nachwachsen, sich regenerieren, künftig wieder bereitgestellt werden kann.“

Aber ist das Gebäude nur deshalb als Beispiel nachhaltigen Bauens zu betrachten? Auch hier möchte ich Zweifel anmelden. Die bei den Zertifizierungssystemen übliche Berücksichtigung weiterer, über die Ökologie hinausgehender Faktoren hat sicher seine Berechtigung.

8. Hafenmarkt: Älteste Häuserzeile Deutschlands

Hafenmarkt 6, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Die auf der Südseite der - vom Alten Rathaus auf den Platz hinter Ihnen führenden - Straße gelegenen Gebäude Hafenmarkt 2-10 sind baugeschichtlich von großer Bedeutung. Aufgrund dendrochronologischer Untersuchungen weiß man, dass die Häuser zwischen 1328 und 1333 in einem Zug erbaut wurden. Sie stellen damit die älteste zusammenhängende Fachwerkhäuserzeile Deutschlands dar.


Warum hier ein Stopp??

Die Häuser weisen eine Vielzahl von Spuren von späteren Umbauten, von Umnutzungen und Reparaturen auf.

Haus Nr. 6 hat heute ein vom 19. Jh. geprägtes Erscheinungsbild. Das Fachwerk wurde aus Brandschutz-Gründen, aber auch infolge veränderter ästhetischer Vorstellungen überputzt. Die Konstruktion funktioniert aber weiterhin. Das Haus an sich und seine graue Energie sind unverändert vorhanden.

Bei Haus Nr. 10, dem Gebäude an der Ecke zum Platz, wurde bereits 1370 unter dem ursprünglichen Sparrendach eine Stuhlkonstruktion eingebaut. 1495 erhielt das Haus eine neue Fensterteilung und der Giebel wurde erneuert. Aus dieser Zeit stammen die stockwerksweisen Auskragungen. Im 18. Jh. wurde die ursprünglich vorhandene Erdgeschosshalle zu einem Laden umgebaut. Die barocke Eingangsfront aus Naturstein und das einfache Fachwerk der Erdgeschossfassade zum Platz hin stammen aus dieser Umbauphase des Hauses. In deren Zuge wurde das Haus verputzt, das Fachwerk war dann – wie bei Haus Nr. 6 – nicht mehr sichtbar. Der heutige Zustand ist Ergebnis umfangreicher Instandsetzungsarbeiten, mit denen ein Privatmann das Gebäude vor dem Abbruch rettete. Seitdem funktioniert das Denkmal als Wohn- und Geschäftshaus mit einer Gastronomie im Keller.

Deutlich wird hier, welche Vorteile es bietet, wenn ein Haus und seine Konstruktion sich zu Umbau und Reparatur eignen, wenn Veränderungen ohne den Totalaustausch großer Teile des Bauwerks möglich sind. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die oben bereits zitierte Nachhaltigkeit von Bestandsgebäuden im Sinne einer dauerhaften (praktische) Relevanz.

Diese Eigenschaft muss nicht nur als ökologische Qualität, sondern auch als ökonomische, technische sowie Prozessqualität (Kriterien der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen) betrachtet werden. Dass der Wert der vorliegenden Denkmale auf ganz anderen Qualitäten beruht, tut dieser Feststellung keinen Abbruch.

9. Bebenhäuser Pfleghof

Hafenmarkt 7-9, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Sie befinden sich jetzt vor dem Haupteingang zur Stadtbücherei. Diese ist in einem ehemaligen Pfleghof untergebracht, das heißt in einer vormaligen Außenstelle eines Klosters zur Verwaltung seines Besitzes in Esslingen und Umgebung. Im vorliegenden Fall handelt es sich um das Zisterzienser-Kloster Bebenhausen bei Tübingen, das hier vermutlich seit 1229 seine Niederlassung hatte.

Das Gebäude, vor dem Sie stehen, ist quasi der Neubau des Pfleghofes, der sich bis zur Webergasse erstreckt. Dort befanden sich die bereits 1257 nachgewiesenen ursprünglichen Gebäude des Pfleghofes. 1315 erfolgte die Erweiterung bis zur Heugasse. Die Fassade vor Ihnen und die Halle dahinter entstanden 1499/1500 unter Verwendung älterer Mauerteile.


Warum hier ein Stopp??

Mit der Reformation und der damit einher gehenden Aufhebung des Klosters Bebenhausen fiel der Hof 1535 an Württemberg. Danach erlebte der Pfleghof eine bewegte und abwechslungsreiche Nutzungsgeschichte.

Zwar bleib er bis 1803 württembergischer Pfleghof, aber bald schon wurden nicht genutzte Räume als Wohnraum vermietet. 1804 wurde der Hof Eigentum des kurfürstlich württembergischen Kirchenrats, 1812 dann Sitz der Stiftungsverwaltung.

1865 an privat verkauft, folgten als Nutzungen 1868 die Champagnerfabrik Mittler & Compagnie, 1884 die Buchdruckerei Schreiber, 1909 die Firma Nanz, die hier Lagerräume und zeitweise auch eine Filiale ihrer Supermarktkette einrichtete. Ab Mitte der 1950er Jahre war dann die Firma Häussler Tapeten und Bodenbeläge im Pfleghof ansässig.

1980 gelange der Hof schließlich in städtischen Besitz. Ab 1981 waren die Volkshochschule und die AG Heimat- und Volkstumspflege hier untergebracht. Nachdem Überlegungen, ein Haus der Heimat Baden-Württemberg im Bebenhäuser Pfleghof einzurichten, scheiterten, wurde das Denkmal 1986-88 zu Stadtbücherei umgebaut.

Und die Geschichte der Umnutzung und Anpassung geht weiter. Wenn Sie die Vorgeschichte des Wettbewerbs zur Erweiterung der Stadtbücherei mitverfolgt haben, wissen Sie, dass auch alternative Standorte für die Bücherei im Gespräch waren. Am Ende haben die Chancen, die das historische Gebäude bietet, gesiegt. Und als Ergebnis des Wettbewerbs liegt nun ein Entwurf vor, der diese Chancen nutzt, der mit dem denkmalgeschützten Gebäude und seiner Geschichte arbeitet und den Pfleghof „weiterbaut“.

Was meine ich mit „weiterbaut“? Der Entwurf entwickelt die neuen Ergänzungen aus dem Gebäude heraus. Der Entwurf will sich mit dem Bestand auseinandersetzen und sich in ihn und die Umgebung einfügen. Das Ziel ist kein bedingungsloser Neuanfang, das Ziel ist Kontinuität und Weiterentwicklung.

Voraussetzung dafür ist ein Gebäude, das sich umnutzen lässt, das sich anpassen lässt, das Möglichkeiten zum Weiterbauen bietet. Dass das beim Bebenhäuser Pfleghof der Fall ist, belegt die bewegte Nutzungsgeschichte ebenso wie das Wettbewerbsergebnis. Auch das ist Prozessqualität eines Bestandsgebäudes im Sinne der Deutschen Gesellschaft für nachhaltiges Bauen.

Dass die in historischen Gebäuden oftmals vorhandenen Chancen dafür erkannt und genutzt werden, ist leider keine Selbstverständlichkeit.

Es setzt Einfühlungsvermögen, Kreativität, Mut zu unkonventionellen Lösungen voraus. Es setzt auch eine Abwägung der an den Bau gestellten Forderungen und der im historischen Bestand vorhandenen Werte voraus. Das macht Kompromisse unvermeidbar!

Dafür wahrt man so aber die schon wiederholt erwähnte Nachhaltigkeit von Bestandsgebäuden im Sinne einer dauerhaften (praktische) Relevanz – mit ihren ökologischen und auch sozio-kulturellen Vorteilen. Auf letztere kommen wir im weiteren Verlauf des Rundgangs noch zu sprechen.

10. Webergasse 8

Webergasse 9, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Sie stehen vor einem der ältesten Fachwerkhäuser Deutschlands. Die Bäume, aus denen die Konstruktion von Webergasse 8 errichtet wurde, wurden 1266/67 gefällt. Damit ist das Haus nochmals 60 bis 65 Jahre älter als die Gebäude am Hafenmarkt.


Warum hier ein Stopp??

Trotz späterer Veränderungen ist vor allem auf der Ostseite die ursprüngliche Bauweise noch gut erkennbar. Und auch das Sparrendach mit Kehlbalken stammt aus der Zeit der Erbauung.

1386 wurde im Dach ein zweifacher stehender Stuhl eingebaut, der auskragende Giebel stammt von 1494, auch an den Außenwänden wurden Teile des Fachwerks ausgetauscht und durch moderneres Fachwerk ersetzt. Aber die Grundkonstruktion ist bis heute erhalten und nutzbar.

Das Gebäude hat Haltbarkeit (technische Qualität), Umbau- und Reparaturfähigkeit (Prozessqualität) bewiesen, ist weitgehend aus natürlichen, regionalen, gut verfügbaren bzw. nachwachsenden Baustoffen errichtet (ökologische Qualität) und offensichtlich war und ist seine Bewirtschaftung wirtschaftlich möglich (ökonomische Qualität). Die Kriterien nachhaltigen Bauens sind hier offensichtlich weitgehend erfüllt.

Aber würde unsere Gesellschaft das Gebäude heute, nachdem es so lange überlebt hat, nicht auch dann schätzen und erhalten wissen wollen, wenn das nicht alles der Fall wäre? Wenn es heute plötzlich funktionslos wäre?

Und würden die Gründe dafür, dass unsere Gesellschaft dem Gebäude weiterhin eine dauerhafte Relevanz zuschreiben würde, von der für die Zertifizierung nachhaltiger Bauten verwendete Definition der sozio-kulturellen Qualität erfasst? Für die Deutsche Gesellschaft für nachhaltiges Bauen steht im Fokus der sozialen Qualitäten der Nutzer des Gebäudes.

In diesem hypothetischen Fall ginge es aber nicht um die materielle Nutzbarkeit. Der Nutzer und die sozio-kulturellen Qualitäten von Bestandsgebäuden müssen meiner Meinung nach wesentlich weiter gefasst werden, um auch solche Fälle angemessen zu berücksichtigen.

11. Konstanzer Pfleghof

Webergasse 4, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Beim Haus Webergasse 3 handelt es sich erneut um einen Pfleghof, diesmal um den des Domkapitels zu Konstanz.

Obwohl schon 1356 auf der Nordseite der Webergasse erwähnt, gehen die heute noch vorhandenen Gebäude des Pfleghofes weitgehend auf das 16. Jh. zurück. Der auf der linken Seite etwas zurückgesetzt erkennbare Hauptbau mit seinem breiten Renaissancegiebel wurde 1584-95 errichtet. Ergebnis einer Erweiterung und Renovierung im Jahre 1756 ist der heute prägende barocke Vorbau mit seinem Mansarddach – direkt an der Webergasse erbaut mit einem brocken Treppenhaus und der ehemaligen Wohnung des Pflegers in der Beletage.


Warum hier ein Stopp??

Auch dieser Pfleghof ist ein gutes Beispiel für die - dem Prinzip der nachhaltigen Bewirtschaftung des Baubestandes entsprechende - Weiter- und Umnutzung nach Wegfall des ursprünglichen Zwecks des Gebäudes. Vor allem aber ein Musterbeispiel für das „Weiterbauen“, wie wir es bei der Stadtbücherei vorher bereits angesprochen haben.

Mit der Säkularisation fällt der Pfleghof 1803 zunächst an Baden, vier Jahre später dann an Württemberg, das das neu gegründete württembergische Kameralamt Esslingen als selbständige Unterbehörde der Staatsfinanzverwaltung in Pfleghof den verlegt. Ab 1833 folgt der Finanzbehörde dann eine königliche Taubstummenanstalt.

1889 wird das Gebäude schließlich an privat versteigert. Der Käufer, Ferdinand Schaeufele, nutzt den Pfleghof als Wohnung und Werkstatt, später dann als Möbel- und Harmoniumfabrik.1904 wird der Architekt Albert Benz mit der Instandsetzung beauftragt. Die Fassadengestaltung im Stil Louis XVI stammt ebenso von dieser Maßnahme wie die gestalterische Integration der Hofmauer auf der linken Seite und die Einrichtung des dahinter - im ehemaligen Hof - für Ausstellungszwecke vorgesehenen Ladenlokals.

Und trotz dieser Zutaten bildet das Anwesen eine Einheit. Hier wurde „weitergebaut“. Ob das zu weit geht, mag Geschmacksache sein, aber das Ergebnis war und ist ein Erhalt der Relevanz des Bestandes und insofern im Sinne der Nachhaltigkeit.

12. Webergasse 1

Webergasse 1, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Sie stehen jetzt vor Webergasse 1, einem stattlichen giebelständigen Gebäude. In der 2009 erschienenen Denkmaltopographie wird das Haus als „verputztes Fachwerkgebäude, das im 15./16. Jh. über einem älteren Keller errichtet wurde“ beschrieben.

Inzwischen wurde das Gebäude umgebaut und grundlegend saniert. In diesem Zuge erfolgten durch Markus Numberger zwischen 2015 und 2017 ausführliche bauhistorische Untersuchungen. Das hat unser Bild von der Geschichte des Hauses maßgeblich verändert und gezeigt, wie eng die Entwicklung des Bauwerks mit der Geschichte der umliegenden Gebäude verknüpft ist. Ich nenne nur die wichtigsten Ergebnisse:

Errichtet wurde das Haus bereits 1279, also ganze zwei bis drei Jahrhunderte früher als gedacht. Reste der ursprünglichen Konstruktion sind bis ins 2. OG noch vorhanden. Der Bau ersetzte ein Vorgängergebäude und wurde wie dieses an ein um 1200 entstandenes Steinhaus angebaut, welches vermutlich bis ins 18. Jh. an der Stelle des heutigen Gebäudes Augustinerstraße 11 stand.

Erst Mitte des 15. Jhs, wurde der Keller des Gebäudes eingewölbt, und 1583 erhielt der Bau seine bis heute erhaltene Dachkonstruktion. Dabei wurden ältere Hölzer wiederverwendet, die teilweise schon 1237 geschlagen wurden.

Die ursprüngliche Raumstruktur konnte ermittelt werden. Ebenso ergaben sich Hinweise auf die Nutzung der Räume. So lassen zum Beispiel Schlauchlöcher im Kellergewölbe des 15. Jhs. vermuten, dass zu dieser Zeit im Erdgeschoß Wein abgepresst wurde, hier also so etwas wie eine Kelter bestanden hat.

Zusammen mit der von Numberger ebenfalls aufgearbeiteten Eigentumsgeschichte ergeben sich spannende Einblicke in die Geschichte eines ganzen Quartierts unmittelbar am Rathausplatz, dem zentralen Platz der mittelalterlichen Stadt, dem ursprünglichen Marktplatz Esslingen. Denn die Gebäude Rathausplatz 6 und 7 sowie das Steinhaus an der Stelle des heutigen Hauses Augustinerstraße 11 verbanden über lange Zeit gemeinsame oder zumindest verwandtschaftlich verbundene Eigentümer und damit eine gemeinsame Geschichte.


Warum hier ein Stop??

Das Beispiel zeigt gut, welche historischen Erkenntnisse in alter Bausubstanz schlummern können. Besteht nicht ein Interesse daran, dass diese Informationen erschlossen werden? Und vor allem, dass die Informationsquellen erhalten bleiben? Verleiht diese Befragbarkeit historischer Bausubstanz derselben nicht auch eine gewisse dauerhafte (praktische) Relevanz und damit dem Gebäude in diesem Sinne auch eine gewisse Nachhaltigkeit?

Als – wissenschaftlich betrachtet – Quelle von Erkenntnissen der Bauforschung, der Kultur- und
Stadtbaugeschichte ist diese Relevanz im vorliegenden Beispiel auf jeden Fall gegeben.

Derartigen – über das rein Technisch-Materielle hinausgehenden – Kriterien für Nachhaltigkeit im Sinne dauerhafter gesellschaftlicher Relevanz des Baubestandes und von Baudenkmalen soll in der Folge weiter nachgegangen werden. Meiner Meinung nach sind diese Kriterien ebenfalls als sozio-kulturelle Qualitäten von Gebäuden zu werten und zu bewerten.

13. Neues Rathaus

Rathausplatz 8, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Das sogenannte Neue Rathaus wurde im 18. Jh. als repräsentative private Residenz errichtet. Und wieder war es die Familie Palm, die hier einen barocken Palais in das Esslinger Stadtbild einfügte – direkt am zentralen öffentlichen Raum der Stadt. 1735 in den Reichsfreiherrenstand erhoben, ließ Franz Gottlieb von Palm ab 1748 das väterliche Haus am Markt durch einen vom Wiener Barock beeinflussten standesgemäßen Neubau ersetzen. Die Fertigstellung des Baus 1763 erlebte allerdings nicht mehr, er verstarb bereits 1749.

Das Haus darf wohl als der ambitionierteste Bau des 18. Jhs. in Esslingen bezeichnet werden. Und er blieb bis über das Ende der Reichsstadt hinaus private Residenz. Letzter privater Eigentümer war Alexander Graf von Württemberg. Dann erwarb die Stadt das Gebäude und machte es – 1841 – zum Rathaus. Das Haus erhielt den bis heute erhaltenen Dachreiter – und niemand wundert sich heute, dass das Gebäude ein Rathaus ist.


Warum hier ein Stopp??

Diese Umwandlung, diese Umkodierung von privater zu öffentlicher Repräsentation macht deutlich, dass die Frage der Nutzbarkeit vielschichtiger ist, als die einer rein materiellen, praktisch-technischen Funktionalität.

Es gibt andere Ursachen für eine anhaltende Nutzbarkeit von Gebäuden, für deren dauerhafte (praktischer) Relevanz – soziale Kriterien, kulturelle Kriterien. Die Nachhaltigkeit, die langfristige Nutzbarkeit von Bestandsgebäuden – sozio-kulturell betrachtet – setzt im Einzelfall vielleicht auch deren Umkodierbarkeit voraus.

14. Salemer Pfleghof

Untere Beutau 8, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Der mächtige Steinbau vor Ihnen ist ein weiterer Pfleghof. Esslingen beherbergte zweitweise insgesamt zwölf in seinen Mauern. Dieser gehörte dem Klosters Salem.

Der Hauptbau dürfte zwischen 1200 und 1220 entstanden sein, ab 1508-15 erfolgte ein spätgotischer Umbau. Im Zuge der Renovierung und Erweiterung entstand der West-Flügel mit Kapelle. Hinter dem spätgotischer Erker befand sich ein Appartement für hochgestellte Gäste mit Saal und Stube. Hier geruhten Herren wie Karl V. oder Philipp II von Spanien zu wohnen, wenn sie in Esslingen waren.

Kloster Salem bleibt in der Reformation katholisch, aber es verkauft den Hof und seine Besitzungen 1682 an Württemberg. Der Hof wird danach wenig genutzt und verwahrlost.

1803 mit der Mediatisierung und dem Verlust der eigenen Gerichtsbarkeit Esslingens wird der Bau dann zum Gefängnis des württembergischen Kreisgerichts gemacht. Bis 1866 werden im Hof Todesurteile mit dem Fallbeil vollsteckt. Und Gefängnis blieb das Gebäude dann mit unterschiedlicher Zuordnung und wechselnden Eigentümern bis 1965. Daher auch die Bezeichnung als „Kriminal“.

1976/77 erwirbt dann die katholische Gemeinde das Gebäude in Erbpacht und nutzt es seitdem als Gemeindezentrum. Im Dachgeschoss befindet sich seit 1999 zudem das Schreibermuseum


Warum hier ein Stopp??

Fraglich ist bis heute, ob der Hof als Schenkung Friedrichs II bzw. seines Sohnes Heinrichs VII an das Kloster kam und ob dieser ursprünglich eine staufische Pfalz war.

Vieles spricht für diese Theorie: Die Entstehung des Steinbaus 1181 oder kurz danach, seine erhöhte Lage am Stadtrand, in die Stadtmauer eingebunden, seine Monumentalität und Größe. Mehrmals fanden im 12. Jh. Reichstage in Esslingen statt. Eine Pfalz wäre ein weiterer Grund für die Bedeutung der Stadt in dieser Zeit im mittleren Neckarraum.

Voraussichtlich ist das aber nicht – mehr – zu klären: Dokumentarischen Belege existieren keine. Beim Umbau zum Gemeindezentrum wurde der Steinbau vollständig entkernt. Gleichzeitig entstand die Ringstraße südlich des Gebäudes. Bauforschung oder archäologische Untersuchungen fanden nicht statt. Und mit der Entkernung wurden nicht nur die Keller des Steinbaus, sondern auch alle archäologischen Befunde endgültig zerstört.

Zum Glück hat der Pfleghof noch andere Qualitäten. Aber überlegen Sie, was hier hätte erforscht und entdeckt werden können. Denken Sie nur an Webergasse 1. Wie viel mehr wäre hier zu erwarten gewesen! Die wissenschaftliche Befragbarkeit historischer Bausubstanz, die dort als ein weiteres Kriterium für deren Nachhaltigkeit diskutiert wurde, wurde hier stark eingeschränkt.

15. Frauenkirche

Untere Beutau 7, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Die Frauenkirche, vor deren Südseite Sie jetzt stehen, gilt als ein herausragendes Beispiel der südwestdeutschen Spätgotik. Nicht nur ist sie eine der ältesten Hallenkirchen in Schwaben und ihr Turm ist einer der wenigen im Mittelalter vollständig vollendeten; die Qualität der Architektur wie auch der Bauplastik ist vorzüglich.

Errichtet wurde die Maria geweihte Kapelle ab 1321 nach einem Aufruf des Rats zu Spenden der Bürger. Bis 1415 entstanden Chor und Langhaus, 1419-1475 der Turm mit seinem durchbrochenen Turmhelm,1508 war schließlich auch der qualitätsvolle Bauschmuck vollendet.

Mehr möchte ich dazu gar nicht sagen. Sehen Sie sich das Meisterwerk an, machen Sie sich Ihr eigenes Bild.


Warum hier ein Stopp??

Schön – oder? Sehr schön! Ein Gemeindemitglied hat mir im Brustton der Überzeugung gesagt, dies sei die schönste Kirche der Welt.

Schönheit ist etwas aus der Mode gekommen. Unbestritten ist aber, dass praktisch alle Menschen Schönheit als spontane Reaktion auf ihre Umwelt empfinden. Und unabhängig davon, ob dies nun in allgemein menschlichen Eigenschaften – sogenannten anthropologischen Konstanten – begründet ist oder in einer gesellschaftlich und kulturell geprägten Ästhetik, die Reaktion ist vorhanden und sie ist nicht nur individuell.

Wenn also die Bürgerschaft, die Besucher, die Nutzer, wenn ein großer Teil einer Gesellschaft ein Bauwerke als schön empfindet, muss das eine Auswirkung haben auf die "Relevanz" des Gebäudes für die und in der Gesellschaft.

Diese sozio-kulturelle Qualität muss meiner Meinung nach in die Bewertung des Bauwerks hinsichtlich seiner Übereinstimmung mit den Kriterien nachhaltigen Bauens mit einfließen – und das auch bei Gebäuden eines nicht so großen künstlerischen Wertes.

Vielleicht haben Sie gehört, dass es in den letzten Jahren wiederholt Diskussionen über die zukünftige Nutzung der Frauenkirche gegeben hat. Als Gottesdienstraum wäre sie für die evangelische Kirche verzichtbar. Die Gemeinde hat mehr als genügend Kirchen in ihrem Besitz. Aber niemand würde auf das Gebäude verzichten wollen, auch wenn es keiner materiellen Funktion mehr dienen würde, wenn für es keine konkrete Nutzung gefunden würde.

Die Relevanz des Gebäudes, ja auch sein Nutzen bliebe bestehen. Grund dafür ist sicher auch seine Schönheit – wenn auch nicht alleine. Aber zu den anderen Aspekten, an die ich hier denke, kommen wir bei den nächsten Stationen noch.

16. Sankt Paul

73728 Esslingen am Neckar, DE

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Ganz anders als die Frauenkirche stellt sich Sankt Paul dar, vor dem Sie jetzt stehen. Viel schlichter! Nicht bürgerliche Repräsentation, sondern die Askese der Bettelorden prägt das Bauwerk bis heute.

Sankt Paul wurde von den Dominikanern erbaut. Es gehört zu den ältesten und den am besten erhaltenen Kirchen des Ordens nördlich der Alpen.

Gebaut wurde an der Kirche vermutlich ab 1235/40, spätestens aber ab 1255. 1291 erhielt sie mit dem Polygonchor weitgehend die bis heute erhalten Form.

Bereits 1268 wurde der Kirchenbau geweiht von Albertus Magnus, einer der großen Persönlichkeiten des Dominikanerordens. Der Gelehrte und Bischof war wegbereitend für den christlichen Aristotelismus des hohen Mittelalters. Er lehrte in Köln und Paris. Im Jahr 1622 wurde er selig-, am 16. Dezember 1931 heiliggesprochen und zum Kirchenlehrer erklärt.

Auch hier lohnt sich ein Blick in die Kirche.


Warum hier ein Stopp??

Die Esslinger Niederlassung der Dominikaner war die älteste in Deutschland.

Ihr Kirchenbau ist bis heute ein hervorragendes Beispiel für die schlichte Bettelordensgotik des 13. Jhs. Sankt Paul ist dabei nicht nur Deutschlands älteste erhaltene Dominikanerkirche. Das Münster ist auch einer der frühesten rein im gotischen Stil ausgeführten Sakralbauten des Landes. Nicht nur als solcher war es Vorbild für mehrere Kirchengebäude im Südwesten.

Für die Historie des Ordens war das Kloster ebenfalls von Bedeutung. Dies belegen die zahlreichen Generalkapitel der Ordensprovinz Teutonia, die in Esslingen stattfanden.

Eine ziemliche Ansammlung von Superlativen: Künstlerischer und architektonischer Wert,
eine große kunsthistorische wie auch historische Bedeutung ergeben sich bei der hier – bei dieser Station – im Vordergrund stehenden wissenschaftlichen, fachlichen Betrachtung.

Auch diese – sich aus einer gesellschaftlich eingebundenen wissenschaftlichen Diskussion ergebenden – Wertungen begründen eine "dauerhafte (praktische) Relevanz" eines Gebäudes und damit eine entsprechende sozio-kulturelle Qualität desselben.

Das gilt aber nicht nur in derart offensichtlichen Fällen! Das Kriterium der (bau-) künstlerischen und (kunst-) historischen Bedeutung ist bei der Bewertung der Nachhaltigkeit von Bestandsgebäuden immer mit zu berücksichtigen.

17. Stadtkirche Sankt Dionys

Georg-Christian-von-Kessler-Platz 20, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Die dritte Kirche, vor der Sie jetzt stehen, ist nicht weniger interessant und auch nicht weniger wichtig als die Frauenkirche oder Sankt Paul. Und auch wieder ganz anders. Wenn Sie die Zeit haben, sehen Sie sich auch diese in Ruhe von innen und außen an.

Die Stadtkirche Stankt Dionys war von Anfang an Esslingens Pfarrkirche – keine Klosterkirche wie Sankt Paul und keine Kapelle wie die Frauenkirche.

Unter dem heutigen Gebäude sind Reste einer Cella aus der 1. Hälfte des 8. Jhs. sowie eines größeren Nachfolgebaus, der zwischen 850 und 860 entstanden ist, zu besichtigen. Die Errichtung der dritten, der heute noch bestehenden Kirche begann 1220. Nach mehreren Plan- wie auch baulichen Änderungen wurde mit dem Abschluss des Südturms 1310 der Bau vorläufig vollendet. 1300-1313 wurde das Langhaus nachträglich nach Westen verlängert. Dann war die heute noch vorhandene Größe erreicht.

Anders als beiden anderen Kirchen sind hier verschiedene Bauphasen ablesbar. Auch von außen klar erkennbar wird das darin, dass sowohl romanische als auch gotische Elemente vorhanden sind.


Warum hier ein Stopp??

Nicht Schönheit, nicht fachliche und wissenschaftliche Bedeutung ist hier mein Thema.
Hier geht es mir um die ideelle Bedeutung von Gebäuden.

Gerne fange ich hier Führungen durch Esslingen an. Dann erfrage ich meistens, ob die Teilnehmer alle Esslinger sind. Denn ihnen muss ich nicht erläutern, dass wir hier am Ursprung der Stadt, ihrem Nucleus stehen.

Im Jahre 777 vermachte ein alemannischer Adliger namens Hafti die Cella, deren Reste unter der Kirche noch vorhanden sind, an den Abt Fulrad von St. Denis. In dieser Urkunde ist Esslingen erstmals schriftlich erwähnt. Mit der von Abt Fulrad nach Esslingen gebrachten Reliquie des Heiligen Vitalis entwickelte sich bald eine Wallfahrt, ein Markt folgte Ende des 8. Jh., hier liegen die Anfänge der Stadt.

1106 geht die Kirche von St. Denis an die Herzöge von Schwaben über. Die Pfarrkirche Esslingen wird eine Eigenkirche der Staufer. Trotz der 1213 erfolgten Schenkung an das Domkapitel von Speyer bleibt Sankt Dionys immer die Pfarrkirche Esslingens. Daran ändert auch die 1531 eingeführte Reformation nichts. Danach ist der Sakralbau die zentrale Kirche der bis zum Ende der Reichsstadt selbständigen evangelischen Kirche Esslingens.

Das Archiv der Stadt befindet sich lange Zeit im Südturm. Auf diesem wohnt der städtische Türmer, der über die Stadt wacht, die typische Silhouette ist ein unverzichtbarer Akzent im Stadtbild. Nicht umsonst sprechen alte Esslinger nur von der Stadtkirche, wenn sie St. Dionys meinen.

Esslingen ohne Stadtkirche? – undenkbar!

Das Gebäude hat eine ideelle Bedeutung für die ganze Stadt und ihre Gesellschaft. Es ist ein Symbol für die Stadt. Andere Gebäude sind das für andere Personengruppen oder Gruppierungen. Wieder andere für ganze Regionen oder Nationen. Auch das eine sozio-kulturell begründete dauerhafte Relevanz eines Bauwerks – eine Art symbolisch begründete Nachhaltigkeit.

18. Marktplatz

Marktplatz 16, 73728 Esslingen am Neckar, DE

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Jetzt stehen Sie auf dem Marktplatz. Wenn Sie an einem Mittwoch oder Samstag da sind, vielleicht mitten unter den Marktständen. Marktplatz ist dieser Platz allerdings erst seit dem Abbruch des Katharinenspitals zwischen 1811 und 1817. Der historische Marktplatz der Stadt war der heutige Rathausplatz.

Ich bitte Sie hier, einen Blick hinauf zur Burg zu werfen. Dort sehen Sie einen massiven runden Turm mit hölzerner Haube, den sogenannten "Dicken Turm".

Bei der Esslinger Burg handelt es sich um keinen Sitz eines adligen Burgherren, ganz im Gegenteil, um einen Teil der Befestigung der Stadt. 1314 erstmal erwähnt, bestand sie anfangs nur aus den Schenkelmauern und einem stadtauswärts davor angelegten Graben. Die Dachkonstruktion von Burgstaffel (links) und Seilergang (Mitte) von 1499/1500 ist samt großen Teilen der Deckung noch original erhalten.

Erst die erfolglose, aber sehr bedrohliche Belagerung der Stadt durch Herzog Ulrich von Württemberg 1519 führte zum Ausbau der vordem nur aus Palisaden bestehenden Befestigungsanlagen auf dem stadtauswärts - jenseits des Seilergangs - gelegenen Plateau des sogenannten Schönenberg.

Ab 1527 wurde auch der Dicke Turm errichtet, der als Geschützturm dienen sollte. Nach zeitweiliger Vernachlässigung erhielt der Turm 1887 eine neue hölzerne Haube nach dem Vorbild der Dicken Türme in Nürnberg.



Warum hier ein Stopp??

Die Burg ist für viele Esslinger die Krone der Stadt, ihr Wahrzeichen. Ursprünglich sicher auch und vor allem als Signal gegen Württemberg gedacht, ist sie im bürgerlichen Selbstbewusstsein fest verankert.

Sehr deutlich wurde dies, als 2011 das seit der 1200-Jahrfeier der Stadt 1977 im Dicken Turm vorhandene Restaurant geschlossen wurde und aufgrund von geänderten Brandschutzbestimmungen auch keine Folgenutzung möglich schien. Dass der Turm nicht mehr zugänglich sein sollte, führte zu einem Aufschrei in der Bürgerschaft. Aus dem Aufschrei ist Engagement geworden. Sehen Sie sich die Hompages der Turmwächter e.V. oder des Burgvereins e.V. an, dann wissen Sie, was ich meine.

Hier zeigt sich die soziale Bedeutung, die Gebäude gewinnen können. Mit ihnen verbindet die Bürgerschaft Identität und Geborgenheit. In der im vorliegenden Fall entwickelten Aktivität äußert sich Gemeinsinn, der sich an Gebäuden realisiert und konkretisiert.

Und dies gilt nicht nur für Einzelgebäude – hier kommt die gesamte Stadt ins Spiel, materiell und ideell. Dazu später noch mehr.

Der Dicke Turm jedenfalls und das mit ihm verbundene bürgerschaftliche Engagement zeigen, dass Gebäude mit ihren Bedeutungen und Konnotationen auch unserer heutigen Gesellschaft sehr wichtig sind.

Habe ich vorher von einer symbolischen Nachhaltigkeit von Gebäuden gesprochen, dann könnte man hier ebenso von einer sozialen Nachhaltigkeit von Gebäuden sprechen. Die in der Nachhaltigkeitsdiskussion angesprochene sozio-kulturelle Qualität von Gebäuden umfasst auch dies!

19. Esslinger Burg

Burg 1, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Jetzt stehen Sie auf dem Seilergang und blicken hinunter auf die Stadt. Jetzt können Sie sicher auch das unten am Marktplatz zur Burg Gesagte besser nachvollziehen. Deswegen habe ich Sie aber nicht hier rauf gejagt.

Dessen ungeachtet, wenn Sie schon da sind, schauen Sie sich nachher ruhig noch die ganze Anlage an.


Warum hier ein Stopp??

Wichtig ist mir hier der Blick über die historische Stadt, die dichte und so schöne historische Stadt mit ihren Highlights, mit ihrem historischen Baubestand, unscheinbaren und auffälligen Gebäuden, mit ihren vielen Denkmalen und ihrer denkmalgeschützten Gesamtanlage.

Und dabei geht es mit um die Stadt, vor allem die historische Stadt - und Nachhaltigkeit.

Alles bisher Gesagte, alle genannten Kriterien für die Bewertung der Nachhaltigkeit von Bestandsgebäuden gelten natürlich auch für die Stadt als Ganzes. Die technisch-materiellen, ökologischen und ökonomischen Kriterien ebenso wie die sozialen und kulturellen, die ästhetischen und wissenschaftlichen Kriterien

Bei den technisch-materiellen Kriterien kommen weitere Aspekt dazu: Die ökologischen und ökonomischen Vorteile einer gewissen baulichen Dichte, einer bereits vorhandenen Erschließung, bereits vorhandener Infrastruktur.

Und betrachtet man die sozialen und kulturellen Kriterien sind Identifikation und Integration als Wert, als von historischen Städten potentiell zu erbringende Leistung zu ergänzen. Unsere Altstädte sind notwendig als Stütze des kollektiven Gedächtnisses. Nur so können Städte Geborgenheit fördern und Identität stiften. Kollektives Erleben, Erleben von Gemeinschaft für Gesellschaften ist nur in einem wirklich öffentlichen Raum gewährleistet. Die von der sogenannten Europäischen Stadt bereitgestellte Öffentlichkeit muss als Wert erkannt und im Nachdenken über nachhaltige Siedlungsformen berücksichtigt werden.

Dieses Plädoyer für die historische Stadt ist im Umkehrschluss natürlich auch ein Plädoyer für den Erhalt auch unscheinbarer Bestandgebäude im Sinne einer sowohl ökologisch als auch sozial-kulturell nachhaltigen Entwicklung.

20. Rathausplatz

Rathausplatz 8, 73728 Esslingen am Neckar, DE

Wo sind Sie jetzt?

Jetzt befinden Sie sich wieder auf dem Rathausplatz, dem Markt der mittelalterlichen Stadt.

Sehen Sie sich um!

Vor Ihnen der Giebel das Alten Rathaus, gefasst von historischen Gebäuden, hinter Ihnen die Platzerweiterung vor der Gaststätte Reichsstadt, ehemals Kornhaus und Bürgerstube. Von oben blickt die Burg herab; rechts von Ihnen ahnen Sie die Türme der Stadtkirche und jenseits des heutigen Marktplatzes den Chor von Sankt Paul.

Um den Platz lauter denkmalgeschützte Gebäude, Gebäude aus vermutlich sieben Jahrhunderten,
alle gleichermaßen heute gegenwärtig, aktuell, belebt und genutzt, alle für uns relevant!

Hier fühlen Sie die Geschichte, ihre Präsenz in der Gegenwart, hier spüren Sie das städtische Bewusstsein, hier erleben Sie die Stadt als Gesellschaft, beim Bürgerfest, beim Weihnachtsmarkt, beim Glockenspielfestival, bei Demonstrationen – und im Haus bei Gemeinderatssitzungen.

Das ist das Wohnzimmer der Stadt.

Und wenn das Glockenspiel erklingt und der Adler, das alte Symbol der Stadt und ihrer Reichsunmittelbarkeit, mit seinen Flügel schlägt, ist das für alle, die die Stadt lieben, erhebend, für Gäste, die den Geist der Stadt erspüren, für neue und alte Esslinger, die hier gerne leben.

Das ist meine Stadt. Da will ich dazu gehören!

Dieses Gefühl müssen wir weitergeben, in die nächsten Generationen, an die neuen Esslinger.

Dazu brauchen wir die historische Stadt und ihre alten Gebäude; das ist es, was ich oben auf der Burg so abstrakt als Identifikation und Integration als Wert, als von historischen Städten potentiell zu erbringende Leistung bezeichnet habe.

Und je besser man sie kennt, die eigene Stadt, desto mehr funktioniert das, wir müssen allen den Zugang dazu ermöglichen, damit sie dazu gehören möchten!


Deshalb hier der letzte Stopp!

Das Thema Nachhaltigkeit muss ganzheitlich betrachtet werden,

ökologisch, ökonomisch, und technisch, aber – und das wird hier besonders deutlich – für die dauerhafte Relevanz von historischen Gebäuden und Städten sind die sozialen und kulturellen Kriterien ebenso wichtig:

die Identifikation mit ihnen, die Integration als Ergebnis der Identifikation und des Interesses an ihnen, die Möglichkeit in der Stadt und ihren Räumen Gemeinschaft zu erleben,

Gebäude können in den Augen der Bürger Spiegel des Gemeinsinns sein, und damit Gemeinsinn fördern. Und nur das Gefühl und das Bewusstsein von Gemeinschaft kann Basis gemeinsamer Werte sein. Deshalb sind unsere Altstädte, ihre historischen Gebäude und ihre öffentlichen Räume so wichtig, sie haben dieses Potential!


Nachdem das gesagt ist aber zurück zu unserer Ausgangsfrage:
Wie sieht mein Fazit aus – sind Denkmale nachhaltig?


Alte Denkmale haben den „test of time“ bestanden, technisch-materiell und sozial-kulturell, sie haben ihre anhaltende Relevanz, ihre Nachhaltigkeit bewiesen, und mit dem Denkmalstatus wird das dokumentiert.

Junge Denkmale, Denkmale aus dem 20. Jahrhundert, haben aber bisher nur den „test of social relevance“ bestanden!

Nachhaltigkeit jedoch setzt den Fortbestand der sozialen Relevanz voraus, dass die wissenschaftliche Bewertung der jungen Denkmale sich in Zukunft nicht ändert, ganz abgesehen von den technisch-materiellen Kriterien ... denn möglicherweise sind sie Energieschleudern und aus lauter nicht natürlichen, nicht nachwachsenden Baustoffen errichtet!

Wir müssen vielleicht noch genauer hinschauen: Denkmale sind nachhaltig! Ja, aber in welchem Sinne?

Nicht insofern, dass sie nachwachsen. Sie sind immer Unikate!

Nachhaltige Bewirtschaftung passt hier nicht her: Bei Denkmalen kann es nur um Verlust oder Verzicht gehen,
oder um erneut Thomas Will zu zitieren „es geht um Entbehrlichkeit, um das Maß der (v)erträglichen Verluste“.

Den Erhalt vorausgesetzt können Denkmale und ihre Bewirtschaftung aber als Beispiel für den Umgang mit vorhandener Bausubstanz insgesamt lehrreich sein, vielleicht ein Vorbild für ihren nachhaltigen Gebrauch darstellen:

als Ressourcen schonende Gebäude aus natürlichen Materialien (v.a. bei den alten Denkmalen);

als Vorbild hinsichtlich der Minimierung des Austauschs von Material (prozessafter Ansatz);

als Vorbild hinsichtlich der Priorisierung von Reparatur und Umnutzung vor Abbruch und Neubau;

als Schule der kreativen Nutzung des Bestandes anstatt das Heil in sogenannten flexiblen Neubauten zu suchen;

als Mahner für eine bewusste Bewertung auch der sozialen und kulturellen Bedeutung von Bauten, diese ist nämlich auch bei anderen Gebäuden gegeben;

als Muster für eine Nutzung vorhandener Strukturen – baulich und infrastrukturell;

als Anregung für Wege zur Minimierung des Aufwandes für Mobilität (europäische Stadt).

Das ist es, was nachhaltige Bewirtschaftung unserer Erde bezüglich des Baubestands bedeuten kann
– und dies nicht nur bei Denkmalen!