Wiener Familienschicksale

Tour Bleichergasse 6, 1090 Wien, AT

Dieser Walk führt durch den 9. und 2. Wiener Gemeindebezirk und behandelt die Diskriminierung von jüdisch Verfolgten in Wien der späten 1930er, frühen 1940er Jahre. Anhand der Darstellung von drei Familienschicksalen werden Orte der Entrechtung in Wien lokalisiert und kontextualisiert.

Autor: Universität Osnabrück

Einführung · Weg der Erinnerung I. Die Entrechtung in Wien und Deportation in den Osten · Malyj|Trostinez - Maly|Trascjanec

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5 Stationen

Wohnung von Laszlo Berczeller

Wir beginnen unseren Rundgang bei zwei Wohnhäusern, in welchen vor dem Anschluss Österreichs an das NS-Regime im März 1938, jüdische Familien wohnten. Die sogenannte „Arisierung” fand in Wien besonders schnell statt. Ab dem 14. Juni 1938 gab es die ersten amtlichen Kündigungen aus den Gemeindebauten mit dem Grund „Nichtarier“. Bis September 1938 waren schon 1225 Wohnungen auf diese Art geräumt worden. Bis Ende des Jahres waren alle, nach den Nürnberger Rassegesetzten als jüdisch definierte Mieterinnen und Mieter aus den Gemeindebauten gekündigt.

Im Frühjahr 1939 begann die sogenannte „Judenumsiedlungsaktion“ in Wien. Innerhalb von wenigen Monaten wurden von der Stadt Wien 13.600 Aufforderungen an „arische“ Hauseigentümer verschickt, ihre jüdischen Mieterinnen und Mieter zu kündigen. Es folgte am 30. April 1940 das „Gesetz über Mietverhältnisse mit Juden“, mit welchem der Mieterschutz zwischen „arischen“ Mieterinnen und Mietern und den als jüdisch Verfolgten aufgehoben wurde. Im Anschluss daran folgte am 30. September 1940 per Reichsgesetz die vollständige Aufhebung des Mieterschutzes für Jüdinnen und Juden. Diese Maßnahmen hatten zur Folge, dass die jüdische Bevölkerung innerhalb von zwei Jahren ihren Wohnraum in Wien verloren.

Die Wohnung, die Sie auf den Fotografien sehen, gehörte László Berczeller. Er war Bio- und Lebensmittelchemiker und ein Pionier der Forschung zu sojabasierten Nahrungsmittelns. Die Fotoserie ist auf den 8. Juni 1938 datiert und wurde von Robert Haas aufgenommen. Zu diesem Zeitpunkt hatten Berczeller und seine Frau die Wohnung schon verlassen und waren ins Exil geflohen. László Berczeller überlebte durch die Unterstützung von Quäkern, starb jedoch völlig verarmt an den Folgen von Unterernährung und Krankheit 1955 in der Schweiz. Unbekannt ist das Schicksal seiner Frau Selma Berczeller.

Wohnung von Familie Stern

Louise und Gustav Stern bewohnten das Palais Kranz im 9. Wiener Gemeindebezirk. Sie flohen schon am 14. März 1938 nach Prag. Alles, was sie nicht mitnehmen konnten, wurde am 9. Juli 1939 im Dorotheum in Wien versteigert. Nachdem 1939 die Tschechoslowakei vom NS-Regime überfallen wurde, nahm sich Louise Stern das Leben. Gustav Stern gelang vermutlich die Flucht.

Die 1937/38 von Robert Haas dokumentierte Fotoserie enthält heute sieben Negativserien – die beiden Wohnungen sind die einzigen, welche identifiziert werden konnten. Der angesehene Fotograf und Grafiker Robert Haas erhielt von wohlhabenden jüdischen Familien, den Auftrag ihre zurückgelassenen Wohnungen zu fotografieren, was nicht ungefährlich war. Haas wurde ebenfalls jüdisch verfolgt und floh 1938 vor dem NS-Regime aus Österreich.

Haas’ Fotografien sollten den vertriebenen Familien als Erinnerung im Exil oder auf der Flucht dienen und bildeten zudem die Grundlage für spätere Restitutionsansprüche. Die Fotos bilden jedoch nur einen kleinen Prozentsatz des, durch das NS-Regime geraubten, Besitzes der als jüdisch verfolgten Wienerinnen und Wiener ab. Von den vielen nicht großbürgerlich eingerichteten Wohnungen und Gemeindebauten, deren Bewohnerinnen und Bewohner vertrieben wurden, gibt es keine Bilddokumente.

Einblicke in Familienschicksale

Ebenso wie die Familien Berczeller und Stern und der Fotograf Robert Haas wurde auch der Vater des Kunsthistorikers, Filmemachers und Professors an der Harvard University, Joseph Koerner aus Wien vertrieben. Koerners Großeltern wurden 1942 von Wien aus nach Maly Trostenez deportiert und dort ermordet.

In seinem Dokumentarfilm „The Burning child” beschäftigt sich Joseph Koerner unter anderem mit seiner Familiengeschichte und besuchte jene Orte, die ihn mit der Vergangenheit und seiner von den Nationalsozialisten verfolgten Familie verbinden. Hier können Sie den eindrucksvollen Trailer des Films sehen: https://www.youtube.com/watch?v=KNsek-BWlCo.
Ebenso veröffentlichte Joseph Körner einen Artikel darüber: https://granta.com/maly-trostinets/.
Im Rahmen eines Seminars an der Universität Wien führten Studierende der Geschichte im Sommersemester 2021 ein Interview mit Joseph Koerner durch. Ausschnitte aus diesem wurden dankenswerterweise für diesen Rundgang zu Verfügung gestellt. Diese können Sie bei den folgenden Stationen anhören.

Familie Körner

Hier, im zweiten Wiener Gemeindebezirk, Am Tabor 13, wohnte die Familie Körner, bestehend aus Vater Leo, Mutter Fanny und Sohn Heinrich Sieghart. Nach dem „Anschluss“ Österreichs an Deutschland emigrierte Sohn Heinrich im September 1938 in die USA, während seine Eltern in Wien blieben. Am 6. April 1939 erreichte Heinrich Körner New York, wo er seinen Namen in Henry Koerner änderte. Der Briefverkehr mit seinen Eltern brach im Jahre 1941 ab.

Im folgenden Interviewauszug beschäftigt sich Joseph Koerner mit der Auseinandersetzung seines Vaters mit dessen Wiener Herkunft.

“…the actual story was never told. How did they die? Where did they die? What happened to them? It never was discussed.” – Joseph Koerner

„I would say that cryptic messages are sent from the parent to the child. […] Messages that start of as enigmatic because a child can’t understand but they’re there. And then people work through those messages. And the messages can be as simple as silences, as planks, as ‚ […] ‘why can I not go into that room’, ‘Why can’t I know about that letter’[…].” – Joseph Koerner

Sammelwohnung Rueppgasse

Hier in der Rueppgasse 14/6 befand sich während des NS-Regimes eine Sammelwohnung.
Im Zuge der „Wohnungsarisierungen“ wurden Jüdinnen und Juden dazu gezwungen ihre Wohnungen aufzugeben. Sie mussten ihre alte Heimat verlassen und neue, meist kleinere Unterkünfte beziehen, welche sie sich mit anderen jüdischen Familien teilten. Viele dieser Sammelwohnungen befanden sich in der Leopoldstadt, im Alsergrund und im ersten Bezirk Wiens. Oft wurden Wohnungen zugeteilt, welche bereits vergeben waren. Viele jüdische Familien wurden bereits kurz nach einer Zuweisung erneut dazu gezwungen, diese Wohnungen wieder zu verlassen. Diese Aktionen geschahen oft sehr kurzfristig. In den Sammelwohnungen herrschte maßlose Überfüllung. Es gab kaum Koch- oder Heizgelegenheiten. Die Lage der Jüdinnen und Juden in den Sammelstätten spitzte sich weiter zu. Besonders das Verbot von Badezimmern in den Sammelwohnungen, veranlasst durch Anton Brunner – einem hohen NS-Funktionär –, verschlechterte die Situation der jüdischen Bevölkerung weiter. Dadurch kam es zu schlechten hygienischen Zuständen und vermehrtem Auftreten von Krankheiten in den Sammelwohnungen

Leo und Fanny Körner wurden in eine solche Sammelwohnung in die Rueppgasse 14 gebracht, bevor sie in den Osten deportiert wurden. Die Israelitische Kultusgemeinde hat zum Ehepaar Körner folgenden Abmeldevermerk dokumentiert: „am 9. Juni 1942 mit Gattin nach Minsk“ (Siehe: Barton, Waltraud (2015): Das Totenbuch – Maly Trostinec. Den Toten ihre Namen geben. Wien: Edition Ausblick. S. 376).

Die Körners wurden als Teil der 1.006 Passagiere des Deportations-Sonderzuges Da 206 („Da“ stand für David, wie in Davidstern), vom Wiener Aspangbahnhof über Volkovysk nach Maly Trostenez gebracht, wo sie am Nachmittag des 15. Juni im Wald von Blagowschtschina erschossen wurden. Als weitere Lektüre soll an dieser Stelle noch auf den Essay „Maly Trostinets“ (2019) von Joseph Koerner verwiesen werden: https://granta.com/maly-trostinets/.

“He [J. Koerner’s father, Heinrich Koerner] did express regret that he didn´t […] turn around to his parents to say Goodbye cause he knew that it was likely he wouldn’t see them again. But he had the sense that to get out you needed so much energy and so much commitment that he didn’t want to look one way or the other.” – Joseph Koerner

In den folgenden Interviewausschnitten spricht Joseph Koerner über „Trauerarbeit“ und den Umgang nachfolgender Generationen mit erlittenem Trauma.

Vielen Dank, dass Sie uns bis hierher begleitet haben. Falls Sie noch mehr zum Thema erfahren wollen, besuchen sie gerne unsere Onlineausstellungen unter:

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