Antifaschistischer Stadtrundgang für Marburg

Stadtführung Am Kupfergraben 5, 35037 Marburg, DE

Dieser Stadtrundgang zeigt v.a. Orte der Opfer und des Widerstands im Marburger Faschismus. Station 1 enthält eine historische Einführung. Da wir auch diejenigen ansprechen wollen, die wenig historische Vorkenntnisse haben findet sich am Ende jeder Station ein Link zu unserem Begriffsglossar mit weiterführenden Erklärungen.

Autor: Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes - Bund der Antifaschist*innen | Kreisvereinigung Marburg

VVN-BDA Marburg

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30 Stationen

0. Historische Einführung, Vorwort und Literatur

Marburg war schon im Kaiserreich eine sehr konservative Stadt. Eine Ausnahme bildeten die Arbeiter*innensiedlungen der Umgebung und speziell der Vorort Ockershausen. Die Ergebnisse der NSDAP lagen in Marburg bei jeder Wahl über dem Reichsdurchschnitt: Schon im Juli 1932, stimmten über 53 % der Marburger*innen für sie, das waren 16 Prozentpunkte mehr als sie reichsweit wählten. Am 20. April 1932, seinem Geburtstag, besuchte Adolf Hitler Marburg und wurde begeistert empfangen. Auf der Bürgerwiese kamen etwa 20.000 Menschen aus Marburg und Umgebung zu diesem Anlass zusammen. Die Machtübertragung 1933 wurde von großen Teilen der Marburger Bevölkerung entsprechend begrüßt.

1933 fanden neben den Reichstagswahlen in Marburg Kommunalwahlen statt. Für die NSDAP stimmten damals 55 %. Zu diesem Zeitpunkt saß der Spitzenkandidat der Marburger KPD, Oskar Müller, schon in Schutzhaft im ->Alten Amtsgerichtsgefängnis, wo ihn auch die Nachricht seiner Wahl in die Stadtverordnetenversammlung erreichte. Das erste Mandat seit 1924 für die Kommunist*innen. Die SPD musste kaum Stimmenverluste hinnehmen. Das zeigt, dass in Marburg (wie auch andernorts) die Anhänger*innen der NSDAP eher selten aus der organisierten Arbeiter*innenschaft kamen, die ihren Parteien KPD und SPD zumeist treu blieb. Vielmehr kam die Unterstützung vor allem von Marburger Beamt*innen, Professor*innen, Student*innen sowie Kleingewerbetreibenden und Bäuer*innen. Besonders viele Anhänger*innen fanden sich an der ->Universität, wo sich auch rasch eine studentische SA bildete.

Die Herrschaft der Nazis unterschied sich in Marburg nicht wesentlich von der andernorts: Boykotte jüdischer Geschäfte, Bücherverbrennung, Deportation, Verfolgung und Ermordung von Jüd*innen, Sinit*zze, Rom*nja, Behinderten, Homosexuellen, Antifaschist*innen und Vertreter*innen der organisierten Arbeiter*innenbewegung. Zudem Gleichschaltung der Presse, der Kirchen und der sonstigen Zivilgesellschaft. Während des Krieges wurden auch in Marburg Zwangsarbeiter*innen ausgebeutet.

In Marburg gab es Widerstand. Dieser ging v.a. von Marburger Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen, Anhänger*innen der Bekennenden Kirche und Gewerkschafter*innen sowie Einzelpersonen aus. Ihr heldenhafter Widerstand kostete sie zumeist das Leben, konnte aber weder Shoah und Porajmos noch die massenhafte Ermordung und Verfolgung von Behinderten, Homosexuellen, politischen Gegner*innen und anderen verhindern. Der Vernichtungskrieg der Faschist*innen verwandelte Europa in ein Schlachthaus, ihm fielen 60 bis 80 Mio. Menschen zum Opfer.

In Marburg wurden gegen Kriegsende v.a. der ->Bahnhof und das Marburger Nordviertel bombardiert, wobei ca. 100 Menschen starben. Als am 28. März 1945 die US-Truppen über Cappel und Gisselberg die Stadt einnahmen, gab es keine Kämpfe mehr. Der Befehl die Brücken in und um Marburg zu sprengen wurde nicht mehr ausgeführt. Die Wehrmacht kapitulierte auf dem ->Friedrichsplatz, zum damaligen Zeitpunkt noch „Adolf-Hitler-Platz“. Marburger Antifaschist*innen begrüßten die anrückenden Truppen als Befreier. Damit endete der Faschismus an der Macht in Marburg.

1947 gründeten Verfolgte und Opfer der Nazis die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) in Marburg. Nach einer kurzen hoffnungsvollen Anfangszeit stellten sie alsbald fest, dass die alten Verhältnisse wiederhergestellt und ehemalige Nazis erneut in hohen Positionen tätig wurden.

Die US-Truppen setzten nach der Befreiung Marburgs Eugen Siebecke von der SPD als Bürgermeister ein, der zuvor in einem Kreis von Antifaschist*innen in Gießen aktiv war. Nach 1945 waren über 30 % der Abgeordneten in der Stadtversammlung ehemalige NSDAP-Mitglieder, darunter auch Karl Theodor Bleek, der seine Mitgliedschaft verschwieg und als unbelastet galt. Er kandidierte als Mitglied einer FDP-Vorgängerpartei zur ersten Bürgermeister*innenwahl in Marburg und gewann. Zwölf Abgeordnete im neuen Stadtparlament waren als ehemalige Mitglieder in NS-Kampfverbänden wie SS und SA organisiert.

Viele ehemalige Anhänger*innen der NSDAP, und davon gab es in Marburg viele, wählten nach dem 2. Weltkrieg die FDP. Die CDU hatte sich kurz nach dem Krieg in ihrem Ahlener Programm links positioniert und sich sogar die Überwindung des Kapitalismus als Ziel gesetzt, was Rechte abschreckte. Marburg hatte entsprechend seinem rechten Milieu als einzige hessische Stadt gegen die Hessische Landesverfassung und den Sozialisierungsartikel 41 gestimmt, mit dessen Hilfe v.a. die Großindustrie in Gemeineigentum überführt werden sollte. In diesem Klima fühlte sich auch der ehemalige Gestapochef von Lyon, Klaus Barbie wohl, als er 1946 in der Barfüßerstraße 35 untertauchte. Barbie wurde später von der US-Militärpolizei verhaftet, konnte aber fliehen. In der Stadt erinnert man sich wesentlich lieber an die Brüder Grimm, die ebenfalls in diesem Haus wohnten.

Entscheidenden Anteil an der rechten Grundstimmung in Marburg hatten auch die hier ansässigen Burschenschaften, die bis heute das gesamte rechte Spektrum von konservativ bis offen faschistisch abdecken. Ihnen gewährte die Stadt ihren Marktfrühschoppen auf dem ->Rathausplatz, bei dem sich Nazis, Konservative und Marburger Bürger*innen gemeinsam bei Bier und Gesang trafen.

Marburg begann sich jedoch in den 1950er Jahren politisch zu wandeln und viele Kämpfe von Demokrat*innen und Antifaschist*innen veränderten die Stadt. Mit Georg Gaßmann wurde 1951 ein Sozialdemokrat und ehemaliges Nazi-Opfer zum Oberbürgermeister gewählt. Im gleichen Jahr wurde der Kommunist und ehemalige Partisan Wolfgang Abendroth zum Professor für Politikwissenschaft in die ->Jägerkaserne bestellt. Der Ruf Marburgs als „rote Hochburg“ hängt wesentlich mit ihm zusammen. 1970 wird Gaßmann von seinem Parteigenossen Hanno Drechsler abgelöst, der bis 1992 im Amt bleibt. Er war ehemaliger Assistent Abendroths.

1972 zog die DKP erstmals in das Stadtparlament ein und blieb dort bis 1993. Seit 1997 kandidieren DKP-Mitglieder gemeinsam mit Mitgliedern der Partei Die Linke und Parteilosen auf der Bündnisliste „Marburger Linke“. In den 1980er Jahren war auch in Marburg die Friedensbewegung auf ihrem Höhepunkt. Der Marburger ->Friedrichsplatz wurde von ihr in „Friedensplatz“ umbenannt, was keine offizielle Anerkennung fand.

In den 1990er Jahren verschob sich das gesellschaftliche Klima im Zuge der Wiedervereinigung in Marburg und bundesweit nach rechts. Den Brandanschlägen von Mölln sowie den Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen 1992 folgten Asylrechtsverschärfungen. Das wirkte sich auch auf das Wahlverhalten der Marburger*innen aus. Nach 22 Jahren löste 1993 Dietrich Möller von der CDU den SPD-Oberbürgermeister ab. 1994 konnten die Kasernen in der Frankfurter Straße endlich in Wohneigentum und Gewerberaum umgewidmet werden, nachdem die Garnison der Bundeswehr aufgelöst wurde. Damit endete für Marburg die militaristische Ära.

Ende der 1990er war überall ein rechtes gesellschaftliches Klima spürbar. So führte die hessische CDU einen rassistischen Landtagswahlkampf gegen die doppelte Staatsbürgerschaft und konnte damit Stimmen gewinnen. Der Marburger CDU-Oberbürgermeister Möller blieb bis 2005 im Amt. Ihm folgte bis 2016 Egon Vaupel von der SPD. Danach ging das Amt an seinen Parteigenossen Thomas Spies.

Seit 2006 wurden auch in Marburg Stolpersteine zur Erinnerung an die Opfer des deutschen Faschismus verlegt. Zwischen 2000 und 2006 verübte der Nationalsozialistische Untergrund seine Morde in ganz Deutschland. Das letzte Opfer, Halit Yozgat, wurde in einem Internetcafé in Kassel erschossen. Erst 2011 wurde der breiten Öffentlichkeit das Ausmaß der NSU-Morde bekannt. Die Notwendigkeit antifaschistischer Arbeit stand in den Jahren danach zunächst außer Frage.

Seit den 2010er Jahren konnten einige antifaschistische Erfolge in der Stadt erzielt werden. 2012 wurde endlich der ->Garten des Gedenkens am Ort der von den Nazis zerstörten Synagoge eröffnet. Das jährliche Gedenken an die Reichspogromnacht findet dort statt. 2013 provozierten die Marburger Jäger mit einem Denkmal im Marburger Stadtteil Bortshausen. Der Protest dagegen war so groß, dass die Geschichte der Militäreinheit verstärkt in den Fokus der Öffentlichkeit rückte. Dabei wurde das ganze Ausmaß ihrer Verbrechen deutlich. 1914 führten sie ein Massaker an der Zivilbevölkerung der belgischen Stadt Dinant durch, wofür sich die Stadt Marburg 2014 bei den Nachfahren der Opfer offiziell entschuldigte. Im gleichen Jahr fand auch der Marktfrühschoppen der Marburger Burschenschaften auf dem ->Marktplatz zum letzten Mal statt. Nach mehreren Jahrzehnten des antifaschistischen Protests konnte diesem rechten Spektakel 2015 endlich ein Ende bereitet werden.

Im selben Jahr wurde eine Gedenkinstallation in Erinnerung an die deportierten Marburger Jüd*innen, Sinti*zze und Rom*nja am Marburger ->Bahnhof installiert. 2019 wurde an der ->Alten Universität eine Plakette zur Erinnerung an die Morde von Mechterstädt angebracht und seit 2021 wird endlich das ->Jägerdenkmal im Schülerpark mit der Kunstinstallation „Verblendung“ sichtbar kommentiert. Im Inneren der Installation befinden sich kurze Texte zu den Verbrechen der Jäger, sodass jede*r erst an diesen vorbei gehen muss, bevor sie*er zum eigentlichen Denkmal kommt.

Auf dem ->Friedrichsplatz steht heute ein von Antifaschist*innen errichtetes Mahnmal in Gedenken an die Opfer rassistischer Gewalt. In diesem Zusammenhang wurde die Bismarckstraße von Antifaschist*innen symbolisch in Mercedes-Kierpacz-Straße umbenannt. Den traurigen Anlass gaben die Morde von Hanau 2020. Die Tatsache, dass dieses Mahnmal immer wieder zerstört wird, zeigt genauso wie der offen faschistische Teil der Marburger Verbindungen, dass in dieser Stadt antifaschistische Arbeit weiterhin nötig ist. Gleichzeitig können in Marburg seit den 2010er Jahren viele Erfolge verzeichnet werden, insbesondere in der antifaschistischen Erinnerungskultur.

Die Hinrichtung Walter Lübckes (2019), der Anschlag in Halle (2019) und die Morde von Hanau (2020) zeigen, wie notwendig Antifaschismus ist. Vor diesem Hintergrund haben wir uns als Marburger Ortsgruppe der VVN-BdA 2021 entschlossen, den Antifaschistischen Stadtrundgang der 1980er zu überarbeiten, zu ergänzen und zu modernisieren. Wir zeigen während dieses Stadtrundgangs v.a. Orte der Opfer und des Widerstands. An sie wollen wir erinnern, denn erinnern heißt kämpfen!

Marburg, den 08.05.2022
Michael Kubacki, Daniel Blatz
VVN-BdA – Kreisvereinigung Marburg

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Vorwort von Dr. Ulrich Schneider

Wenn man heute durch Marburg geht, kann man den Eindruck gewinnen, dass die Erinnerung an das NS-Regime mit seinen zahllosen Opfern auch im öffentlichen Raum präsent ist. Es liegen nicht nur zahlreiche Bücher und Dokumentationen zum Thema vor, auch Gedenktafeln und andere Erinnerungszeichen findet man am Bahnhof, an verschiedenen Gebäuden und auf öffentlichen Plätzen der Stadt. Doch nur wenige werden sich daran erinnert, welch mühseliges Unterfangen es seit den 1970er Jahren war, diese sichtbare Erinnerung in der Stadt zu etablieren.

Denn der Umgang mit der historischen Erinnerung in Marburg war alles andere als unkompliziert. Zwar hatte die Stadt seit der 1968er Student*innenbewegung den Ruf einer „linken Hochburg“, doch das bezog sich zuerst einmal auf die Universität und dort auch nur auf wenige Fachbereiche. Neben einzelnen linken „Hochburgen“ war die Stadtgesellschaft selbst weiterhin konservativ dominiert, was sich nicht zuletzt in politischen Wahlergebnissen zeigte, selbst als die DKP in Fraktionsstärke in das Stadtparlament einzog. Das hatte eine lange Tradition, selbst nach dem Ende der NS-Zeit. Eine historische Studie kam zu dem Ergebnis, dass nach 1945 über 30% der Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung ehemalige NSDAP-Mitglieder waren. Man hatte sich sehr schnell mit „Persilscheinen“ und dem Verdrängen der eigenen Verantwortung wieder in das Alltagsleben eingefunden. Wer dieses kollektive Verdrängen in Frage stellte, der störte. Das erlebte die „Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes“ (VVN) Ende der 1950er Jahre, als sie auf einer öffentlichen Versammlung in Marburg über die Nazi-Vergangenheit von Theodor Oberländer und Hans Globke in der Adenauer-Regierung berichtete.

Doch das Interesse an der historischen Erinnerung wuchs – gerade unter den jungen Generationen. So konzipierte die Marburger VVN-BdA gemeinsam mit der Volkshochschule Ende der 1970er Jahre einen antifaschistischen Stadtrundgang, der an verschiedenen Stationen die Wirklichkeit des NS-Regimes und Beispiele der Verfolgung und des Widerstands nachzeichnen sollte. Der Grund für diese Form der „Verortung von Geschichte“ war, dass schon damals in Marburg die Zeitzeug*innen des antifaschistischen Kampfes fehlten. Um eine Form der Authentizität zu erreichen, mussten die historischen Orte genutzt werden. Diese Stadtführungen erwiesen sich als Erfolgsgeschichte. Nicht nur Teilnehmende von VHS-Kursen begleiteten die Rundgänge, sondern zahlreiche Lehrer*innen mit ihren Schulklassen buchten solche Führungen, wenn im Unterricht das Thema NS-Zeit auf dem Lehrplan stand. Oftmals waren es auch Projekttage, wo die Schüler*innen sich mit historischem Material auf solche Rundgänge vorbereiteten oder nachher das Gehörte in Präsentationen umsetzten.
Die Resonanz war so gut, dass 1981 selbst ein Fernsehteam des Hessischen Rundfunks einen Rundgang begleitete und einen längeren Bericht in der „Hessenschau“ zeigte. Das wiederum brachte die Stadtoberen – damals getragen von einer Großen Koalition von CDU und SPD – in Rage. Man wollte der Volkshochschule untersagen, solche Rundgänge anzubieten und der Marburger Verkehrsdirektor Hans Christian Sommer erließ – mit Grüßen des CDU-Bürgermeisters Prof. Stoffregen – folgende Anweisung: „Alle Stadtführerinnen und Stadtführer werden dringend gebeten, unseren Touristen lediglich die Schönheiten unserer Universitätsstadt Marburg zu erläutern. Emotionelle und negative Äußerungen über geschichtliche und sonstige Geschehnisse sind daher zu unterlassen.“ Die Botschaft war eindeutig: Wer zukünftig Gästegruppen führen wollte, sollte tunlichst keine antifaschistischen Inhalte verbreiten.

Wie das mit Verboten manchmal so ist, diese Anweisung erhöhte das Interesse von Gruppen an antifaschistischen Stadtführungen der VVN-BdA. Leider waren die Kräfte der Kreisvereinigung begrenzt und so entschied man sich 1984, die Stationen dieser Stadtführungen und weitere bedeutsame Orte in einer Broschüre zusammenzutragen, die es historisch Interessierten ermöglichen sollte, sich auch selbst auf Spurensuche zu begeben. Im Herbst 1985 lag der erste „Antifaschistische Stadtführer für Marburg/Lahn“ vor. Ziel war es, „einen Beitrag zur Entwicklung eines demokratischen Geschichtsbewusstseins, einer antifaschistischen Traditionspflege (zu) leisten“, wie es im Vorwort hieß. Und tatsächlich hat diese – damals noch bescheidene – Broschüre einen wichtigen Anstoß dafür gegeben, dass sich in den Folgejahren Interessierte der Marburger Geschichtswerkstatt mit großem Engagement und hoher Sachkenntnis in Marburg auf Spurensuche begeben haben. Anlässlich linker Tagungen in Marburg wurden Rundgänge auf den Spuren demokratischer Erinnerung angeboten. Unter der Ägide des Rosa-Luxemburg-Clubs erschienen bereits zwei Auflagen des demokratischen Stadtführers „Marburg rauf und runter, Stadtspaziergänge durch Geschichte und Gegenwart“.

Dennoch besteht das Interesse an einer antifaschistischen Verortung der Stadtgeschichte weiterhin. Und es ist ein sehr gutes Zeichen, dass knapp 40 Jahre nach der ersten Auflage dieses „Antifaschistischen Stadtführers“ eine deutlich erweiterte und historisch ergänzte Ausgabe vorgelegt wird von jungen Antifaschist*innen, die sich der geschichtspolitischen Arbeit verbunden fühlen. Jetzt, wo tatsächlich die Zeit der Zeitzeug*innen vorbei ist, müssen umso mehr die Orte zum Sprechen gebracht werden, indem mit ihnen Informationen und Berichte verbunden werden, die die Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung an die Nachgeborenen weitergegeben haben. Damit bleibt ihr historisches Vermächtnis lebendig.

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Literatur

Rosa-Luxemburg-Club Marburg (Hrsg.): Marburg rauf und runter. Stadtspaziergänge durch Geschichte und Gegenwart. BdWi-Verlag. Marburg, 2018.
- Gibt einen Überblick über die historische Entwicklung Marburgs, portraitiert verschiedene Persönlichkeiten und schlägt verschiedene Rundgänge vor. Mit Beiträgen von Uli Schneider, Jan Schalauske, Georg Fülberth und Gert Meyer u.a.

Göllnitz, Martin/Mecking, Sabine (Hrsg.): Skandal!? Stadtgeschichten aus Marburg im 20. Jahrhundert. Transcript Verlag. Bielefeld, 2022.
- Stellt verschiedene Skandale der Marburger Stadtgeschichte, wie die Morde von Mechterstädt, die Machenschaften der Marburger Jäger und die Marburg Files dar, aber auch wie Wolfgang Abendroth in die Alte Jägerkaserne kam.

Cramer, Alexander/Wilder, Sarah Christin: „… daß auch hier in der Stadt Marburg der Wille des Führers erfüllt wird.“ Nationalsozialismus und kommunale Selbstverwaltung. Institutionen. Personen. Wirkungen (1930-1950). 2015.
- Umfangreiche Studie, die detailliert über die Machtübernahme der Nazis in Marburg und die Verfolgung ihrer Gegner*innen berichtet.

Schneider, Ulrich: Marburg 1933-1945. Arbeiterbewegung und Bekennende Kirche gegen den Faschismus. Röderberg-Verlag. Frankfurt am Main, 1980.
- Untersuchung der lokalen Aktivitäten gegen den Faschismus.

Graf, Alexander: Mütze, Band und Braunhemd – Marburger Studentenverbindungen und der Nationalsozialistische Studentenbund während der Weimarer Republik. Marburg 2011.
- Geht der Frage nach, welche Entwicklung die Marburger Studentenverbindungen bis zur Machtübertragung an Hitler nahmen.

Schneider, Ulrich: Marburg 1933-1945. Arbeiterbewegung und Bekennende Kirche gegen den Faschismus.
- Untersuchung der lokalen Aktivitäten gegen den Faschismus.

Graf, Alexander: Mütze, Band und Braunhemd – Marburger Studentenverbindungen und der Nationalsozialistische Studentenbund während der Weimarer Republik, Marburg 2011.
- Geht der Frage nach, welche Entwicklung die Marburger Studentenverbindungen bis zur Machtübertragung an Hitler nahmen.

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Glossar:
https://marburg.vvn-bda.de/glossar-stadtrundgang/

Glossarbegriffe des Abschnitts.
Anschlag in Halle
Arbeiter*innenbewegung
Asylrechtsverschärfungen
Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen
Bekennende Kirche
Boykottaktion jüdischer Geschäfte
Brandanschläge von Mölln
Burschenschaften
CDU
DKP
FDP
Gestapo
Gleichschaltung
Hinrichtung Walter Lübckes
Kommunist*innen
KPD
Marburger Jäger
Morde von Hanau
Morde von Mechterstädt
Nationalsozialistischer Untergrund
NSDAP
Porajmos
Reichspogromnacht
Shoah
Sinti*zze und Rom*nja
Sozialdemokrat*innen
SPD
SA
SS
Stolpersteine

1. Bahnhof

35039 Marburg, DE

Der Marburger Bahnhof wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts unter kurhessischer Verwaltung gebaut. Nach der preußischen Eroberung Kurhessens 1866 diente der Bahnhof der besseren Anbindung der preußischen Besatzungstruppen in Marburg an das restliche Militärnetz.

Die Bahnlinie Kassel-Marburg-Gießen besaß in beiden Weltkriegen große strategische Bedeutung, da sich in Kassel der Sitz des Generalkommandos der Wehrmacht befand und Gießen Hauptverkehrsknotenpunkt der Nord-Süd- sowie der Ost-West-Route war.

In Stadtallendorf befanden sich die TNT- und Munitionshersteller Sprengstoffwerke Allendorf und Herrenwald, die über das Schienennetz verbunden waren. Die Linie wurde deshalb mehrmals bombardiert.

Ende des 2. Weltkrieges wurde das Bahnhofsviertel von britischen und US-amerikanischen Bomben getroffen. Bei den Luftangriffen am 22. Februar 1945, sowie am 5. und 23. März 1945 wurden fast 300 Bomben abgeworfen. Der letzte Angriff am 23. März 1945 war so schwer, dass der Bahnhof trotz des Einsatzes von 1.400 Soldaten und Eisenbahner*innen bis zur Befreiung der Stadt am 28. März 1945 unbenutzbar blieb. Bei diesen Angriffen wurde auch das Klinikum in der Emil-Mannkopff-Straße 6 (seit 1984 das selbstverwaltete Wohnprojekt „Bettenhaus“) mehrfach getroffen.

Unrühmliche Bedeutung erlangte der Bahnhof durch die Deportationen von 349 Jüd*innen und Sinti*zze aus Marburg und Umgebung. Zwischen 1941 und 1943 gab es insgesamt vier Deportationen in die Vernichtungslager und Ghettos nach Riga, Lublin, Theresienstadt und Auschwitz. An den Aufgängen zu Gleis 5 und Gleis 8 wurden zum Holocaustgedenktag am 27. Januar 2015 vier Gedenkbänder angebracht. Darauf sind Name und Alter der Deportierten zu lesen. Über einen QR-Code kann online u.a. auf Augenzeug*innenberichte zugegriffen werden.

Link zu den Zeitzeug*innenberichten: https://www.marburg.de/portal/seiten/gedenkbaender-deportationen-900001370-23001.html

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Glossar:
https://marburg.vvn-bda.de/glossar-stadtrundgang/

Glossarbegriffe des Abschnitts:
Ghetto
Holocaust
Holocaustgedenktag – 27. Januar
Kurhessen
Preußen
Sinti*zze und Rom*nja

2. Elisabethkirche

Elisabethstraße 3, 35037 Marburg, DE

In der Elisabethkirche befindet sich das Grab des letzten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Paul von Hindenburg. Als Generalfeldmarschall im 1. Weltkrieg wurde er nach dem Sieg gegen die russische Armee in der sogenannten Schlacht bei Tannenberg in nationalistischen Kreisen des Deutschen Reiches zum Symbol des „unbesiegbaren Deutschlands“.

Als populärer Heeresführer führte er zusammen mit Erich Ludendorff vom Sommer 1916 bis zum Kriegsende 1918 die Dritte Oberste Heeresleitung (OHL), die als Militärdiktatur angesehen werden kann. Sie setzten den totalen Krieg (der nicht nur Soldaten, sondern alle Teile der Bevölkerung betraf) fort. Ebenso beschloss diese Heeresleitung den Beschuss von zivilen Schiffen, in dessen Folge die USA in den Krieg eingriff.

Als das Deutsche Reich im Begriff war den Krieg zu verlieren, drängte die OHL die neu gebildete deutsche Regierung unter Max von Baden einen Waffenstillstand zu unterschreiben. Die militärische Führung übernahm dabei keinerlei Verantwortung. Die daraufhin einsetzende Novemberrevolution und Gründung der Republik wurde von Hindenburg und den deutschen Nationalist*innen in Form der Dolchstoßlegende umgedeutet: Während die deutschen Soldaten „im Felde unbesiegt“ geblieben seien, hätten sogenannte Novemberverbrecher*innen sie hinterrücks „erdolcht“, sprich: verraten.

Nachdem sein Mitstreiter Erich Ludendorff zusammen mit Adolf Hitler im November 1923 einen gescheiterten Putsch unternommen hatte (Hitlerputsch), wurde der immer noch populäre Hindenburg 1925 zum Reichspräsidenten der Weimarer Republik gewählt. In dieser Position war es ihm möglich, die ihm verhasste Republik zu schwächen. Nach der Finanzkrise 1929 und der darauffolgenden Wirtschaftskrise ermöglichte er den Kanzlern Franz von Papen und Kurt von Schleicher die Ausführung einer autoritären Politik, die zum Ende der demokratischen Weimarer Republik führte.

Als er am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannte, besiegelte er das Ende der Demokratie und den Beginn der faschistischen Diktatur in Deutschland. Im gleichen Jahr ernannte die Stadt Marburg Hitler und Hindenburg zu Ehrenbürgern. Diese Ehrung erlischt normalerweise mit dem Tod. Trotzdem hat die Stadt Marburg Hitler die Ehrenbürgerwürde offiziell aberkannt, Hindenburg jedoch nicht.

Hindenburg wurde nach seinem Tod 1934 am Tannenbergdenkmal in Ostpreußen, heute Polen, beerdigt. Mit dem Rückzug der Wehrmacht wurde sein Leichnam in ein Thüringer Salzbergwerk gebracht, von wo ihn die US-amerikanischen „Monuments Men“ 1946 nach Marburg in die Elisabethkirche brachten. Obwohl der damalige hessische Ministerpräsident Georg August Zinn und der Chef der Staatskanzlei der hessischen Landesregierung Hermann Brill vor einer Vereinnahmung der Grabstätten durch deutsche Nationalist*innen und vor einem Sammelpunkt von Ewiggestrigen warnten, blieb das Grab der Hindenburgs bis heute in der Kirche erhalten.

Ebenfalls in der Elisabethkirche befindet sich am Altar ein Kreuz des Künstlers Ernst Barlach. Seine Kunst galt den Nazis als „jüdisch“ und „kulturbolschewistisch“. Dieses Kreuz aus Bronze, das 1931/32 in der Kirche aufgestellt worden war, passte damit nicht in das Konzept der NSDAP. Ab November 1936 wurde gegen das Kreuz Stimmung gemacht. Es sei „entartete Kunst“ und somit von der Kirchengemeinde zu entfernen.

Nachdem sich die Gemeinde geweigert hatte, brach die SA am 6. Dezember 1938 in die Elisabethkirche ein und stahl das Kreuz, um es einschmelzen zu lassen. Seitdem galt es als verschollen.

Im Herbst 1945 wurde es auf dem Dachboden des Marburger Bauamtes überraschend wiedergefunden und an seinen ursprünglichen Platz zurück-gebracht. Seinem Schicksal entging es nur durch Zufall bzw. durch „Schlamperei“ der SA.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Dolchstoßlegende
Hitlerputsch
Novemberverbrecher*innen
Novemberrevolution
NSDAP
SA
Schlacht bei Tannenberg

3. Behringdenkmal

Deutschhausstraße 2, 35037 Marburg, DE

Als der Mediziner Emil von Behring 1895 nach Marburg kam, war er bereits für die Entdeckung des Impfstoffes zur Bekämpfung der Diphtherie bekannt.

Damit konnte vor allem Kindern geholfen werden, die von dieser Infektionskrankheit am stärksten betroffen waren. Für diese Entdeckung wurde Behring 1901 mit dem ersten Nobelpreis für Medizin ausgezeichnet. Mit dem Preisgeld und staatlicher Finanzierung wurden in Marburg-Marbach die Behringwerke errichtet.

Wie Behrings Lebenswerk missbraucht wurde, zeigt die Beteiligung der Behringwerke an den Verbrechen des deutschen Faschismus.

Seit 1940 wurde an Fleckfieberimpfstoffen gearbeitet, die für deutsche Soldaten der Wehrmacht verwendet werden sollten. Die Wirksamkeit der Impfstoffe sollte im KZ Buchenwald an Häftlingen getestet werden. Dort wurden ab 1942 Häftlinge mit Fleckfieber infiziert. Sie wurden in Gruppen aufgeteilt: Eine bekam am ersten Tag das Präparat injiziert, eine am dritten, eine am fünften und eine bekam nichts injiziert.

Verantwortlich für die Beteiligung der Behringwerke an Menschenversuchen war Albert Demnitz. Er war seit 1928 Produktionsleiter und Direktor der Behringwerke, die seit 1929 dem Verbund der I.G. Farben angehörten.

An diesen Versuchen starben mindestens 127 von 537 Häftlingen. Weitere Häftlinge wurden als Träger für frische Erreger des Fleckfiebers missbraucht. Für die Beteiligung an den Menschenversuchen wurde Demnitz nie zur Verantwortung gezogen, stattdessen hatte er nach Kriegsende sogar eine Honorarprofessur an der Universität Gießen.

Für die kriegswichtige Bedeutung der Behringwerke wurde dieses Denkmal 1940 von der NSDAP enthüllt. Behrings jüdische Frau Else Spinola und seine Kinder wurden schon 1934 von Hitler persönlich zu „Edelariern“ ernannt, nachdem zuvor Behring selbst wegen „Verunreinigung germanischen Bluts“ durch Tierblutserum verleumdet worden war.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
I.G. Farben
NSDAP

4. Haus Isenberg

Steinweg 12, 35037 Marburg, DE

Dieses Haus war seit Anfang des Jahrhunderts im Besitz der jüdischen Familie Isenberg, die nachweislich seit Anfang des 19. Jahrhunderts in Marburg lebte.

In den 1920er Jahren betrieb die Familie hier eine Gaststätte und Schächterei. Dort wurden der überwiegend jüdischen Kundschaft koschere, d.h. jüdischen Speisegeboten entsprechende, Waren angeboten. Die Isenbergs gehörten zum angesehenen Marburger Mittelstand, bis sich ab dem 30. Januar 1933 ihre Lebensbedingungen grundlegend änderten.

Schon im Rahmen der Boykottaktion am 1. April 1933 musste das Haus geschlossen werden, später erfolgten staatlicherseits zahlreiche Auflagen, z.B. das Schächtverbot und der Entzug der behördlichen Genehmigung.

Besonders betroffen wurden die Isenbergs von der Reichspogromnacht. Gerson Isenberg wurde verhaftet und zusammen mit 30 weiteren Marburger Jüd*innen am 11. November 1938 in das KZ Buchenwald deportiert. Fünf Tage später starb er angeblich an Herzversagen.

Wie es wirklich zu seinem Tod kam, ist bis heute ungewiss, doch die Berichte ehemaliger Häftlinge des KZ Buchenwald sprechen von Misshandlungen und schlimmsten Lebensbedingungen, denen die jüdischen Häftlinge im November 1938 ausgesetzt waren. Anschließend wurde das Haus Isenberg im Gegensatz zu den meisten jüdischen Geschäften nicht arisiert.

Es diente in den folgenden Jahren bis 1942 als Judenghetto. Insgesamt existierten mehrere solcher „Judenhäuser“ in Marburg, in denen die noch in der Stadt verbliebenen Jüd*innen abgeschirmt von der übrigen Marburger Bevölkerung leben mussten, bis am 6. September 1942 die letzten Marburger Jüd*innen in das KZ Theresienstadt und von dort aus meist in das Vernichtungslager Auschwitz verschleppt wurden. So auch die Witwe Gerson Isenbergs, Selma Isenberg, die nach zwei Jahren in Theresienstadt in Auschwitz ermordet wurde.

Erinnert sei an dieser Stelle an Marie Luise Hensel. Nachdem die großen Deportationen von Jüd*innen überall begonnen hatten, versuchte sie den jüdischen Rechtsanwalt Hermann Reis sowie dessen Frau und Tochter über die deutsch-schweizerische Grenze am Bodensee in Sicherheit zu bringen. Sie wurde denunziert und ins Konstanzer Gefängnis eingeliefert. Nach einem dreitägigen Verhör beging sie Selbstmord, um die Familie nicht durch das Verraten von Geheimnissen in Gefahr zu bringen. Die Familie Reis wurde in Auschwitz ermordet. 1972 wurde Luise Hensel durch Yad Vashem, die Gedenkstätte der Märtyrer und Helden des Staates Israel im Holocaust, als „Gerechte unter den Völkern“ anerkannt.

Die Marburger „Judenhäuser“ befanden sich an folgenden Orten:
- Steinweg 12
- Steinweg 16
- Wettergasse 2
- Untergasse 17
- Heusingerstraße 1
- Heusingerstraße 3
- Barfüßertor 15 b
- Schulstraße 16
- Schwanallee 15

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Glossar:
https://marburg.vvn-bda.de/glossar-stadtrundgang/

Glossarbegriffe des Abschnitts:
Arisierung
Boykottaktion jüdischer Geschäfte
Reichspogromnacht
Schächtverbot

5. Steinwegsäle

Roter Graben 4, 35037 Marburg, DE

In diesen Räumen waren zwischen den 1970er Jahren und 2018 drei Kinosäle untergebracht. Vor 1933 dienten sie häufig den Organisationen der Arbeiter*innenbewegung als Versammlungslokal. Sie boten bis zu 300 Personen Platz. So führte z.B. die Naturfreundejugend Ende 1932 hier eine politische Kulturveranstaltung mit dem Ziel durch, Marburger Jugendlichen dem Einfluss der Hitlerjugend zu entziehen.

Am 1. Februar 1946 wurde hier, anknüpfend an die Tradition dieser Stätte, der Freie Gewerkschaftsbund als Einheitsorganisation der Arbeiter*innenbewegung gegründet.

Am 1. August fand in den Steinwegsälen die Gründungskonferenz der mittelhessischen IG Metall statt. Unter halblegalen Bedingungen fand in diesen Sälen auch die erste überregionale Beratung der hessischen KPD nach der Befreiung im Sommer 1945 statt.

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Glossar:
https://marburg.vvn-bda.de/glossar-stadtrundgang/

Glossarbegriffe des Abschnitts:
Arbeiter*innenbewegung
Freier Gewerkschaftsbund
Hitlerjugend
KPD
Naturfreunde

6. Jüdische Geschäfte in der Oberstadt

Wettergasse 20, 35037 Marburg, DE

Die jüdische Bevölkerung Marburgs war Teil der Stadtgesellschaft und nicht wie in anderen Städten zu einem Leben in einem jüdischen Ghetto gezwungen. Mit der rechtlichen und politischen Gleichberechtigung der Jüd*innen 1869 wurden sämtliche Beschränkungen des wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Lebens aufgehoben.

Viele Jüd*innen aus der Umgebung zogen nach Marburg und nahmen am Wachstum und Aufschwung der Stadt teil. Sichtbares Zeichen davon waren jüdische Geschäfte in den Geschäftsstraßen Marburgs: Bahnhofstraße, Gutenbergstraße, Steinweg, Neu-stadt, Wettergasse, Marktplatz und Barfüßerstraße.

Die wenigen jüdischen Geschäfte, die den 1. Weltkrieg und die darauffolgenden wirtschaftlichen Krisen der 1920er Jahre überstanden, wurden während des Faschismus reichsweit boykottiert, dann liquidiert oder arisiert. D.h. sie wurden entweder zwangsweise geschlossen und anderweitig von Nicht-Jüd*innen genutzt, konfisziert oder an Nicht-Jüd*innen weit unter dem realen Wert verkauft. Dadurch wurden jüdische Geschäftsleute finanziell ruiniert. Die Besitzer*innen der Geschäfte wanderten aus oder wurden vielfach Opfer der Shoa. Das fand auch in Marburg statt. Einige wenige Betroffene seien hier stellvertretend benannt.

Auf Anordnung der NSDAP wurde am 27. März 1933 eine Boykottaktion ausgerufen. Sie betraf vor allem die Wettergasse und die Barfüßerstraße. Am 28. März hatten Marburger SA-Leute dementsprechend die jüdischen Geschäfte mit Hetz- und Boy-kottaufrufen beklebt. Betroffen waren u.a. die Kolonialwarenhandlung Blumenfeld, Katz & Co (Wettergasse 4) und das Bankhaus Eichelberg und Sohn (Wettergasse 15).

Im Steinweg 4 meldete das Modehaus Ellenzweig 1934 Konkurs an. Der Ausverkauf des Geschäftes wurde durch einen SA-Posten behindert. Eine weibliche Angehörige der Familie zog später nach Berlin, zwei Männer wanderten in die USA aus.

Das Warenhaus Heineberg für Bekleidung, Spielwaren und Küchengeräte von Selmar Frank im Steinweg 2 ½ meldete 1935 Konkurs an. SA-Posten vor dem Haus hatten Kunden mit Anzeigen gedroht und damit eine bis dahin gut laufende Firma ruiniert. Der Eigentümer und sein Sohn wanderten in die USA aus. Dorthin war die Tochter bereits geflohen.

In der Neustadt 27 war ein Geschäft für Kurz- und Modewaren sowie Konfektionsklei-dung. Ursprünglich im Eigentum von Esther Baum war es seit 1889 im Besitz des Schwiegersohns Markus Leyser. Es wurde 1934 „arisiert“ und die Familie zog nach Köln, von wo aus sie 1938 in die Niederlande flüchtete. Markus Leysers Sohn Julius und dessen Ehefrau Anna wurden mit ihren Kindern Ernst und Hans vom Lager Westerbork aus in das Vernichtungslager Sobibor verschleppt und noch am Tag der Ankunft, dem 6. Juli 1943, ermordet.

Das Schuhhaus von Josef Spinat befand sich in der Wettergasse 35. 1935 wurde die wirtschaftliche Situation unhaltbar und der Inhaber kündigte die Schließung und einen Ausverkauf an. SA und Mitglieder der Schuhmacher-Innung behinderten diesen Ausverkauf mit der Begründung, Spinat habe noch neue Ware angenommen. Am 9. April kam es deshalb zu den schwersten Ausschreitungen gegen jüdische Geschäfte, die sich in Marburg nachweisen lassen. Zehn bis fünfzehn Studenten, deren Anführer gleichzeitig in der SA waren, zertrümmerten den ganzen Laden. Josef Spinat und seine Ehefrau konnten sich in Sicherheit bringen und flohen erst nach Wiesbaden, dann nach Palästina. Das Verfahren gegen die Täter wurde eingestellt, die Tat als „grober Unfug“ bezeichnet. Spinat galt in polizeilichen Akten daraufhin als „unmittelbarer Störer der öffentlichen Ordnung“.

Diese vier Familiengeschichten stehen exemplarisch für Vertreibung, Verfolgung und Ermordung vieler Marburger Jüd*innen. Die vielen Stolpersteine in der Oberstadt halten die Erinnerung an sie wach.

7. Alte Synagoge in der Oberstadt

Schloßsteig 1, 35037 Marburg, DE

Die erste jüdische Gemeinde lebte in Marburg bereits im Mittelalter, in der Nähe der alten Synagoge am Schloßsteig. Eine jüdische Schule und Synagoge gab es seit 1317. Sie wurde zwei Jahre später nach einem verheerenden Stadtbrand wieder aufgebaut.

Während der Pestzeit zwischen 1348 und 1351 wurden die Marburger Jüd*innen, wie auch andernorts, grundlos für die Verbreitung der Seuche verantwortlich gemacht. Sie wurden Opfer lokaler Pogrome ihrer Nachbar*innen.

Dabei spielten der christliche Antijudaismus und ökonomische Gründe eine große Rolle: Juden war die Ausübung christlicher Berufe untersagt und sie wurden lediglich als Kaufleute und Geldleiher geduldet. Dass sie Wucher betrieben und sich dabei bereichert hätten, scheint mehr über die zahlungsunfähigen Schuldner*innen zu sagen, als über die geldleihenden Jüd*innen.

Ihre Einnahmequelle wurde von den Obrigkeiten streng geregelt und hohe Leihzinsen waren verboten. Außerdem war die Aufenthaltserlaubnis für Jüd*innen häufig mit besonderen Abgaben an die Obrigkeiten verbunden.

1452 wurde die Synagoge kaum noch genutzt und die Steine für den Mauerbau des Kilians verwendet. Der Durchgang neben der Synagoge war seit dem Mittelalter als „Judengasse“ benannt. Die Faschist*innen änderten 1933 den Namen zu „Schloßsteig“.

An der Ecke Mainzer Gasse befand sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts wieder eine Synagoge, die bis zum Bau der Synagoge in der Universitätsstraße noch zweimal den Ort wechselte. Sie befand sich ab 1720 in der Langgasse und ab 1871 an der Ecke Steingasse/Ritterstraße.

1993 wurden die Überreste der mittelalterlichen Synagoge wiederentdeckt und bis 1997 ausgegraben. Die Ausgrabungsstätte wurde 2001 zum Wetterschutz mit einem Glaskubus versehen. Zu sehen ist noch der stark verwitterte Schlussstein mit Davidsstern.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Antijudaismus
Pogrome

8. Kilian

Schuhmarkt 4, 35037 Marburg, DE

In der ältesten erhaltenen Kirche Marburgs befand sich während der NS-Zeit die Marburger Abteilung der Gestapo. Dies war den Marburger Zeitgenoss*innen durchaus bekannt, was eine Naziaktion gegen den unliebsamen Pfarrer Karl Bernhard Ritter beweist. In den Jahren 1933 und 1934 führte er den Widerstand der hessischen Pfarrer gegen die Machtergreifung der Faschisten in der Bekennenden Kirche an.

Im Polizeibericht sind die Rufe, die gegen Ritter skandiert wurden, dokumentiert. Sie forderten: „Ritter muss in ein Konzentrationslager! Ritter muss in den Kilian!“

Durch dieses Haus gingen alle, die antifaschistischer Aktivitäten oder der Gegner*innenschaft zum Naziregime verdächtigt wurden. Im September 1935 wurden z.B. über ein Dutzend Marburger Kommunist*innen hier verhört. Nachdem Hitler auf dem Reichsparteitag in Nürnberg verkündet hatte, dass der Kommunismus in Deutschland endgültig zerschlagen sei, tauchten an den Außenmauern des Marburger Schlosses, den Türen der ->Lutherischen Pfarrkirche sowie an weiteren Gebäuden mit roter Ölfarbe die Losungen „Der Kommunismus ist unsterblich!“, „KPD lebt!“ sowie die Symbole Hammer und Sichel auf.

Als die Gestapo 1938 einen Aufruf Marburger Theologiestudenten in die Hände bekam, wurden hier sieben Mitglieder der Bekennenden Kirche verhört, darunter der Theologiestudent Bernhard Schöne. Sie forderten Geistliche auf, den Treueeid auf den faschistischen Staat aus christlicher Verantwortung abzulehnen. Aufgrund der anschließenden Verfolgungswelle mussten damals mehr als 10 % der eingeschriebenen Theologiestudenten ihr Studium in Marburg aufgeben.

Im August 1944 wurden alle noch bekannten Antifaschist*innen, insbesondere Kommunist*innen, Sozialdemokrat*innen und Gewerkschafter*innen, verhaftet. Sie wurden zunächst im Kilian verhört und dann in Konzentrationslager deportiert. Unter ihnen waren Cilly und Jakob Schäfer (->Cilly-und-Jakob-Schäfer-Haus) sowie der Gewerkschaftssekretär Heinrich Otto (->ADGB/SPD-Büro).

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Bekennende Kirche
Gestapo
Kommunist*innen
Sozialdemokrat*innen

9. Rathausschirne

Markt 2, 35037 Marburg, DE

Gestapohäftlinge wurden in der Rathausschirne eingesperrt, von wo aus sie zu den Verhören in den ->Kilian gebracht wurden. Bei längerer Haft wurden sie in das ->Amtsgerichtsgefängnis überführt. Während des Kriegs wurden auch Zwangsarbeiter*innen hier interniert. Für viele war dies der erste Haftort in Marburg.

Nachdem der Besitzer des Kilian 1982 die Anbringung einer Gedenktafel an der Kapelle für die Opfer des Marburger Widerstands ausdrücklich abgelehnt hatte, wurde hier am Rathaus auf Beschluss der Stadtverordnetenversammlung am 30. Januar 1983 eine solche angebracht.

Der Text lautet: „Wir gedenken der Marburger Opfer des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Der aus Überzeugung, um des Glaubens und Gewissens willen gegen die nationalsozialistische Gewaltherrschaft geleistete Widerstand war ein Verdienst um das deutsche Volk. Der Magistrat der Stadt Marburg am 30. Januar 1983 anlässlich des 50. Jahrestages des Beginns der NS-Diktatur.“

Der Forderung demokratischer Kräfte in Marburg, u.a. des Deutschen Gewerkschafts-bunds (DGB) und der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN), die Tafel solle auch die Namen einiger Marburger Widerstandskämpfer*innen tragen, wurde bis heute nicht entsprochen. Deshalb seien sie wenigstens hier genannt. Sie stehen stellvertretend für die zahlreichen Opfer aus dem Widerstand, der aus den unterschiedlichsten Richtungen kam:

Heinrich Otto (Gewerkschaftssekretär, ADGB), August Eckel (Lehrer, SPD), (Cilly Schäfer, Schneiderin, KPD), Bernhard Schöne (Theologiestudent, Bekennende Kirche), das Ehepaar Pfifferling (stellvertretend für die jüdischen Bürger*innen Marburgs).

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
ADGB
Bekennende Kirche
Deutscher Gewerkschaftsbund
Gestapo
KPD
SPD

10. Rathaus/11. Marktplatz

Markt 1, 35037 Marburg, DE

10. Rathaus

Am 10. November 1918 wehte hier im Anschluss an die Novemberrevolution zum ersten und einzigen Mal die rote Fahne der Arbeiter*innenbewegung auf dem Dach. Hier tagte der Arbeiter*innen-, Soldaten- und Student*innenrat, der die Verwaltung der Stadt innehatte. In Marburg gehörten diesem Organ neben Soldaten, Bürger*innen, Professor*innen sowie einem Studenten allerdings nur drei Arbeiter an. Seine obersten Ziele waren wenig revolutionär: „Ruhe und Ordnung“. Nachdem sich die sozialistische Räterevolution reichsweit nicht durchsetzen konnte, verschwand auch der Marburger Rat.

Ab 1939 leitete Walter Voß die Gemeindeangelegenheiten und war maßgeblich für die Verfolgung der Mitglieder der Marburger Arbeiter*innenparteien verantwortlich. Nach 1945 galt er trotz seiner schon seit 1933 bestehenden Mitgliedschaft in der NSDAP sowie seiner Zugehörigkeit zu SS und NS-Fliegerkorps als entlastet. Die Spruchkammer im Entnazifizierungsverfahren kam zu diesem Ergebnis aufgrund seines angeblichen Einsatzes für die kampflose Übergabe der Stadt an die US-amerikanischen Truppen sowie seiner Verdrängung aus dem Sparkassenvorstand 1938.

Nach 1945 waren über 30 % der Abgeordneten in der Stadtversammlung ehemalige NSDAP-Mitglieder, darunter auch Karl Theodor Bleek, der seine Mitgliedschaft verschwieg und als Mitglied einer FDP-Vorgängerpartei zum Oberbürgermeister gewählt wurde. Es gab deutschlandweit kaum Länderparlamente mit höherem Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder. Zwölf Parlamentarier waren Mitglieder in den NS-Kampfverbänden SA, SS oder NS-Kraftfahrkorps.

Diese postfaschistische Phase endete 1951 mit der Wahl des Sozialdemokraten Georg Gassmanns zum Oberbürgermeister. Am 5. Juni 1933 war er noch zusammen mit anderen Marburger Sozialdemokraten nach dem Verbot der SPD in „Schutzhaft“ genommen worden.

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11. Marktplatz

Seit 1903 fand vor dem Rathaus der Markfrühschoppen statt, der in erster Linie von den Marburger Studentenverbindungen getragen wurde. Zu diesem „kürzesten Volksfest Deutschlands“ waren auch die faschistischen Burschenschaften Rheinfranken, Normannia Leipzig und Germania eingeladen. Deswegen mobilisierten seit den 1990er Jahren Marburger Antifaschist*innen immer wieder zu Protesten, riefen die Stadt auf, den Marktplatz nicht zur Verfügung zu stellen und versuchten zuletzt die Veranstaltung zu blockieren.

Wegen der Aufnahme eines chinesischstämmigen Burschenschafters in einen Mitgliedsverband der Deutschen Burschenschaft debattierten andere Mitglieder des Dachverbands öffentlich über die Zulässigkeit der Aufnahme eines nicht „Volksdeutschen“. Diese Diskussion um einen „Ariernachweis“ führte in Verbindung mit den Protesten und einer nur halbherzigen Distanzierung der Veranstalter 2014 zum letzten Marktfrühschoppen.

Schon 1920 hatte die Deutsche Burschenschaft beim Burschentag in Eisenach beschlossen, keine Juden mehr aufzunehmen, und von Neumitgliedern ein Ehrenwort verlangt, „frei von jüdischem oder farbigem Bluteinschlag“ zu sein sowie keine jüdischen oder „farbigen“ Ehefrauen zu haben oder künftig zu heiraten. Anfang der 1930er Jahre spielte insbesondere die Marburger Germania eine große Rolle bei der Faschisierung der Universitäten bzw. der (akademischen) Gesellschaft.

Ihr Verhältnis zum Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund war zwar von Konkurrenz aber niemals von inhaltlichen Unterschieden bestimmt.

Im Februar 1935 übernahm Hans Glauning, Mitglied der der Marburger Germania, die Führung der Deutschen Burschenschaft. In dieser Eigenschaft übergab er im Oktober 1935 während des Wartburgfestes die Fahne der Burschenschaft offiziell an den Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund. Diese „Selbstauflösung“ war alles andere als ein Akt der Opposition, sondern eine bewusste und freiwillige Selbstgleichschaltung aufgrund lang bestehender inhaltlicher Übereinstimmung.

Einige der Marburger Burschenschaften vertreten auch heute noch reaktionäre bis neofaschistische Inhalte, was sie immer wieder unter Beweis stellen: So luden z.B. die Burschenschaft Rheinfranken 1999 den Holocaustleugner Horst Mahler und die Burschenschaft Germania 2014 den Geschäftsführer des neofaschistischen Instituts für Staatspolitik Erik Lehnert auf ihr Haus ein.

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Arbeiter*innen- und Soldatenrat
Arbeiter*innenbewegung
Arbeiter*innenparteien
Burschenschaften
Deutsche Burschenschaft
FDP
Institut für Staatspolitik
Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund (NSDStB)
Novemberrevolution
NSDAP
SA
Schutzhaft
Studentenverbindungen
SS

12. Lutherische Pfarrkirche

Lutherischer Kirchhof 1, 35037 Marburg, DE

Die generelle Haltung der Kirche wird im Memorandum des Kirchenbundesamts von 1933 deutlich: „Der Versuch einer gewaltsamen Aufrichtung der kommunistischen Diktatur schien auf dem Wege der Verwirklichung. Es braucht nicht ausführlich dargelegt zu werden, welches Schicksal die Kirche (…) im Fall eines Sieges des Kommunismus gefunden haben würde. Der Standpunkt der Reichsregierung, daß sie durch Übernahme der Regierung (…) eine in sicherer Aussicht stehende Katastrophe verhindert hat, wird auch von den Kirchen geteilt.“ Trotzdem gab es antifaschistischen Widerstand in der Kirche.

In der Lutherischen Pfarrkirche fanden die Versammlungen der Bekennenden Kirche statt. Sie befand sich im sogenannten Kirchenkampf mit dem profaschistischen Teil evangelischer Christ*innen, den Deutschen Christen. Diese forderten den Arierparagraphen in den Bereichen der Kirche einzuführen, die Schaffung eines „völkischen Christentums“ und die Verkündung einer „heidnischen Jesusgestalt als Grundlage eines artgemäßen Christentums“.

In der Bekennenden Kirche gab es keine einheitliche Opposition gegen den Faschismus. Große Teile blieben dem Führerstaat treu und waren auch keine Gegner*innen des 2. Weltkriegs, ihnen ging es vor allem um die Ablehnung einer Einmischung der Nazis in innere Kirchenangelegenheiten.

Ihrer Ansicht nach sei nur dem Wort Gottes und keiner anderen Macht zu vertrauen und zu gehorchen. Mit einem kirchlichen Notrecht schufen sie sich 1934 eigene Leitungs- und Verwaltungsstrukturen, um so der Einflussnahme der Nazis in innere Kirchenangelegenheiten zu entgehen. Die theologisch motivierte Ablehnung der faschistischen Kirchenpolitik besaß in Marburg eine große Ausstrahlungskraft. Mit Ausnahme eines Pfarrers schlossen sich alle Pfarrer dem Pfarrernotbund an, einer Vorläuferorganisation der Bekennenden Kirche. In Marburg stehen Hans von Soden und Bernhard Heppe für den antifaschistischen Teil der Bekennenden Kirche.

Professor Hans von Soden war u.a. federführend an der Erstellung eines ablehnenden Gutachtens der Theologischen Fakultät zum sogenannten Arierparagraphen beteiligt. Aufgrund seiner antifaschistischen Tätigkeit wurde er 1934 zeitweilig in den Ruhestand versetzt.

Der Cölber Pfarrer Bernhard Heppe versandte Rundbriefe für die Mitglieder der Bekennenden Kirche, in denen er über die Entwicklungen im Kirchenkampf informierte und sich antifaschistisch positionierte. Seine Post wurde überwacht und geöffnet sowie seine Predigten von Gestapo-Spitzeln abgehört. Ein Lebensmittelhändler in Cölbe versteckte Heppes Korrespondenz und gab seine Briefe heimlich an vertrauenswürdige Mitglieder der Kirchengemeinde weiter. Der Ortspolizist warnte Heppe regelmäßig vor Hausdurchsuchungen der Gestapo. Anfang der 1940er Jahre konfirmierte er eine Sintiza gegen den Widerstand der örtlichen Nazis in der Cölber Kirche.

1939 wurde er nicht rechtzeitig gewarnt, sodass eine Schreibmaschine und seine Unterlagen durch die Gestapo beschlagnahmt und 6.000 Reichsmark eingezogen wurden. Seine Briefe erreichten laut den Ermittlungen 284 Geistliche, 3 Professoren und 41 Laienmitglieder. Seine letzte Predigt hielt Heppe in Cölbe am Weihnachtsfest 1943. Danach wurde er erneut als Soldat für den Krieg auf dem Balkan eingezogen. Er geriet 1945 in englische und jugoslawische Kriegsgefangenschaft und starb an Diphterie. Kurz vor seinem Tod zog er Bilanz:

„Aber wir haben als Kirche nicht unsere Pflicht getan, nicht in der Judenfrage, nicht in der Euthanasie, nicht in der Rechtsbarkeit und anderen Kapitalfragen. Alles endete in Vergötzung des Volkes, gedankenlos als Maske, dahinter eine satanisch-planvolle konsequente partei-egoistische Terrorisierung des Einzelmenschen. Herr, lass mich noch einmal am Aufbau Deiner Kirche mitarbeiten mit geläuterter Seele.“

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Arierparagraph
Bekennende Kirche
Deutsche Christen
Gestapo
Pfarrernotbund
Sinti*zze und Rom*nja

13. Schloss/Schlosspark

Landgraf-Philipp-Straße 6, 35037 Marburg, DE

Im Marburger Schloss lagerten nach dem 2. Weltkrieg etwa 411 Tonnen geheimer Akten des Außenministeriums des Dritten Reichs. Sie wurden zuvor im Harz gefunden und aus der sowjetischen Besatzungszone entfernt. Die als „Marburg Files“ und „Windsor Akte“ bekannten Dokumente enthielten Pläne des NS-Regimes, den zuvor abgedankten König Englands, Edward VIII., von einem SS-Agenten entführen zu lassen. Die „Operation Willi“ sollte Edward VIII. zu einer Zusammenarbeit nötigen, im Gegenzug sollte er im Rahmen einer künftigen Friedensregelung wieder König von Großbritannien werden.

Der Schlosspark war in den 1980er Jahren Schauplatz revanchistischer und antidemokratischer Kundgebungen der Marburger Verbindungen. Sie veranstalteten in der Nacht zum 1. Mai einen Fackelzug zum Schlosspark und versuchten, wie vor ihnen schon die Nazis, den Feiertag der Arbeiter*innenbewegung durch antidemokratische, rassistische und revanchistische Kundgebungen zu besetzen.

Dieser Ort ist aber gleichzeitig auch Schauplatz großer antifaschistischer Demonstrationen. Jedes Jahr zogen 1.000 bis 1.500 Marburger Bürger*innen zum Schlosspark, um diese Kundgebung der Marburger Verbindungen zu verhindern. Dies ist auch weitgehend gelungen, sodass diese Aufmärsche heute der Vergangenheit angehören.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Arbeiter*innenbewegung
Revanchismus
SS
Verbindungen

14. KPD-Büro

Barfüßerstraße 7, 35037 Marburg, DE

Dieses Haus beherbergte das Büro der Marburger KPD, das nach dem Reichstagsbrand vom 28. Februar 1933 ebenso wie die Büros der KPD in allen anderen Städten besetzt wurde. Am gleichen Tag wurde Oskar Müller, der Vorsitzende der Ortsgruppe der KPD, zusammen mit seinen Genossen Philipp Grösser und Alfred Kruse verhaftet. Man warf ihnen vor, die Sprengung der Schlossbergbühne vorbereitet zu haben. So wurde auch in Marburg versucht, der KPD ein Verbrechen anzulasten, um sie so besser verbieten zu können. Dies geschah nach dem Vorbild des Reichstagsbrands.

Während der gesamten Zeit des Dritten Reichs trafen 75 % der politisch motivierten Urteile Mitglieder und Sympathisant*innen der KPD sowie anderer kommunistischer Organisationen, weitere 11,4 % die SPD. An den Verhaftungswellen waren SA und SS federführend beteiligt. Voraus gingen dem häufig provozierte Saalschlachten der SA (siehe ->Heinrich-Abel-Haus). Neben Arbeiter*innen war auch eine große Zahl Erwerbsloser und eine kleine Gruppe Studierender in der KPD organisiert und antifaschistisch orientiert.

Aus dem Jahr 1932 stammt ein gemalter Aufruf zur Wahl des kommunistischen Kandidaten Ernst Thälmann zur Reichspräsidentenwahl, der bis heute am Marktplatz erhalten ist. Nachdem dieses Zeitdokument lange Jahre hinter den Stühlen und Tischen des nahegelegenen Cafés verschwunden war, wurde 2022 zumindest eine Glasscheibe zum Schutz angebracht.

Trotz harter Verfolgung gelang es auch in Marburg nicht, Widerstandsaktionen der KPD völlig zu verhindern. So tauchten noch 1935 an den Außenmauern des Marburger ->Schlosses und an den Türen der ->Lutherischen Pfarrkirche kommunistische Losungen und Symbole auf (siehe ->Kilian). Bis zum September 1936 registriert die Gestapo noch „kommunistische Hetzereien“ in Marburg. Danach führte die zunehmende Kontrolle zu weniger öffentlichen Aktionen.

Eine gemeinsame antifaschistische Aktionsfront mit der SPD gab es in Marburg nur punktuell. Die später von der KPD als Fehler bezeichnete und unter völliger Verkennung der politischen Lage entstandene Unterstützung des Volksentscheids zur Auflösung des SPD-regierten preußischen Landtags 1931 hatte auch in Marburg die Spaltung der Antifaschist*innen befördert und wesentlichen Anteil daran, dass eine gemeinsame Organisation von der SPD abgelehnt wurde.

1945 wurde kurzfristig der Tatsache Rechnung getragen, dass die Parteien der Arbeiter*innenbewegung in grundsätzlicher Gegnerschaft zum NS-Staat gestanden und zu den Hauptträger*innen des Widerstandes gehört hatten. Als Bürgermeister wurde der Widerstandskämfper und Sozialdemokrat Eugen Siebecke eingesetzt, Kommunisten wurden Leiter der Polizei und des Wohnungsamtes. Der Staatspolitische Ausschuss, der zur Unterstützung des Magistrats eingesetzt wurde, setzte sich ebenso wie der überparteiliche „Frauenausschuss“ aus Anhänger*innen der CDU, der LDP, der SPD und der KPD zusammen. Schon bald setzte sich jedoch der alte Antikommunismus durch.

In den 1950er Jahren kam es so zu der beschämenden und kuriosen Situation, dass sich wegen des Verbots der KPD 1956 ehemalige Widerstandskämpfer*innen erneut vor Gericht zu verantworten hatten. Dort trafen sie auf ehemalige Nazi-Jurist*innen, die erneut Recht sprachen. Nach zwölf Jahren Arbeit in der Illegalität gründet sich 1968 bundesweit und in Marburg die DKP. Doch damit war die unrühmliche antikommunistische Geschichte der BRD nicht abgeschlossen. Im Gegenteil führte der sogenannte Radikalenerlass ab 1972 zu einer neuen Verfolgungswelle. Der damalige Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) bezeichnete ihn später als kardinalen Fehler. Ihn seiner Folge wurde Kommunist*innen und alle, die kommunistischer Gesinnung auch nur ansatzweise verdächtigt wurden, als Verfassungsfeinde mit Berufsverboten belegt.

Betroffen war auch der Marburger Postbeamte Herbert Bastian. Der Gewerkschafter und DKP-Stadtverordnete war zwischen 1984 und 1990 von einem Berufsverbot allein aufgrund seiner DKP-Mitgliedschaft betroffen. Er verlor seinen Arbeitsplatz und seinen Pensionsanspruch. Der Fall sorgte international für Empörung und zahlreiche Gewerkschafter*innen, Kommunist*innen und Sozialdemokrat*innen erklärten sich solidarisch. 1990 wurde er vom Bundespräsidenten begnadigt, das Urteil gegen ihn aber nie aufgehoben. 1991 wurden auch im letzten Bundesland (Bayern) die Regelanfragen abgeschafft.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Antifaschistische Aktion
Antikommunismus
Arbeiter*innenbewegung
CDU
DKP
Gestapo
KPD
LDP
Radikalenerlass
Reichstagsbrand
SA
SPD
SS
Staatspolitischer Ausschuss

15. Altes Landratsamt

Am Plan 2, 35037 Marburg, DE

Am 23. März 1943 wurde durch die Ortspolizei das städtische Einwohnermeldeamt Marburg informiert, dass auf Befehl des Reichsführers-SS Sinti*zze und Rom*nja aus Marburg und Umgebung im Keller des damaligen Landratsamtes zusammengeführt und mit Zügen der Reichsbahn nach Auschwitz deportiert werden. Betroffen waren 78 Marburger*innen. Ihr Eigentum wurde eingezogen.

Der Zeitzeuge Heinz Strauß berichtet: „Wir sind dann (am 23. März 1943) von der Gendarmerie zum Cölber Bahnhof gebracht worden. Von da aus ging es dann mit dem Zug nach Marburg, zum Hauptbahnhof. Vom Hauptbahnhof brachten sie uns ins ehemalige Landratsamt. Dorthin, wo heute die Gedenktafel angebracht ist. Sie haben dann die Sinti zusammengeholt, die im Kreis lebten. […] Dann Polizisten, links und rechts, mit Gewehren und Hunden, sind wir dann losgegangen, durch die Stadt bis zum Bahnhof, und dann wurden wir in einen Waggon reingepfercht. […] In Kassel haben wir Halt gemacht. Da haben sie noch weitere Sinti eingeladen. Dann ging es durch bis nach Auschwitz-Birkenau. Uns haben die gesagt, wir werden angesiedelt, wir müßten da nur alles urbar machen. Das haben wir auch geglaubt. Wir haben nie geglaubt, daß es uns da schlecht geht.“ Nur zwei der deportierten Sinti überlebten.

Im August 1990 forderten der Hessische Landesverband Deutscher Sinti und Roma und Marburger Sinti*zze beim sozialdemokratischen Oberbürgermeister Hanno Drechsler die Schaffung eines Erinnerungszeichens.

Dieser lehnte ab und schlug die Schaffung eines Denkmals „für alle Opfer von Krieg und Gewalt“ vor. Im Anschluss fand am 14. Januar 1991 eine erste öffentliche Diskus-sionsveranstaltung mit Adam Strauß, dem Vorsitzenden des Landesverbands Deutscher Sinti und Roma, statt. Zu ihr waren Bürger*innen und die städtische Politik eingeladen worden.

Strauß lehnte dort das vonseiten des Oberbürgermeisters angestrebte Denkmal ab und kritisierte: „Es ist ein Skandal, dass Opfer und Täter auf eine Ebene gestellt wer-den sollen. Dem unerträglichen Zynismus der SPD muss ein Ende gemacht werden.“

Fast zwei Jahre später stellte die SPD einen Antrag, eine Gedenktafel anzubringen, der von Grünen, DKP, Bürger für Marburg und CDU angenommen wurde. Zum 50. Jahrestag der Deportation 1993 wurde die Gedenktafel am damaligen Sammelplatz angebracht. Täter*innen und Opfer wurden hier klar benannt. Die jährliche Gedenkveranstaltung für die 78 deportierten Marburger Sinti*zze findet vor dieser Tafel statt.

Link zu den Zeitzeug*innenberichten: https://www.marburg.de/portal/seiten/gedenkbaender-deportationen-900001370-23001.html

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
CDU
DKP
Sinti*zze und Rom*nja
SPD

16. Alte Universitätsbibliothek & Altes Amtsgericht

Universitätsstraße 25a, 35037 Marburg, DE

Dies war der Arbeitsplatz des ersten offen antisemitischen Reichstagsabgeordneten Otto Böckel. Er arbeite hier als Bibliothekar. Er zog 1887 in den Reichstag ein und wurde drei Mal wiedergewählt. Schräg gegenüber der Bibliothek befand sich das Amtsgericht. Im Fall einer Zwangsversteigerung zog Böckel eine Fantasietracht („Hessenkittel“) an, überquerte die Straße und hetzte vor dem Gericht gegen Jüd*innen, die an allem Schuld seien.

1879 wurde er Mitglied der Gießener Burschenschaft Germania und gründete 1890 die Antisemitische Volkspartei (ab 1893 Deutsche Reformpartei) für die er bis 1903 für den Wahlkreis Marburg-Frankenberg im Reichstag saß. Als Politiker erlangt Böckel besonders durch radikal-antisemitische Agitation Bekanntheit. Er ist Herausgeber mehrerer völkischer Zeitschriften.

Neben seinem Antisemitismus ist er für sozial-revolutionäre Forderungen zur Besserstellung der Bauern bekannt. Aufgrund seiner Popularität in der ländlichen Bevölkerung wurde er als „hessischer Bauernkönig“ bezeichnet.

Später stilisierten ihn die Nazis zu einem Wegbereiter ihrer Bewegung. In Marburg trug die heutige Schulstraße während der NS-Zeit seinen Namen. Dort befand sich auch das ->Heinrich-Abel-Haus.

Im Amtsgericht durfte es laut Erlass des Justizministeriums bereits ab April 1933 nur noch einen jüdischen Anwalt, entsprechend dem Bevölkerungsanteil, geben. Es wurden alle jüdischen Referendare entlassen und jüdischen Notaren wurde die Ausübung ihrer Tätigkeit verboten. Der einzig verbliebene Anwalt war Dr. Bacharach. Er wurde allerdings Ende 1933 suspendiert. Ein Jahr später wurde ein Verfahren wegen „fortgesetzten Wuchers und der Überhebung der ihm zustehenden Anwaltsgebühren“ angestrengt.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Burschenschaft

17. Altes Amtsgerichtsgefängnis

Wilhelmstraße 17, 35037 Marburg, DE

Im Juli 1932 wurden hier 16 Kommunisten, Parteilose und Anhänger der Eisernen Front eingesperrt. 25 bis 30 SA-Männer erschienen mit Gummiknüppeln und losgemachten Schulterriemen in der „roten Siedlung“ Knutzbach (Waldtal). Auf die Rufe „Alarm! Rotfront heraus!“ und „Proleten heraus!“ vertrieben die Anwohner*innen die SA. Die Polizei verhaftete lediglich Antifaschisten. Eine Anzeige der Marburger Roten Hilfe gegen Mitglieder der SA wurde nicht einmal verhandelt.

In Folge des Reichstagbrands und der damit einhergehenden Inhaftierung sämtlicher kommunistischer Mandatsträger*innen kamen auch diese ins Amtsgerichtsgefängnis. Im Februar 1932 saß der Spitzenkandidat der Marburger KPD, Oskar Müller hier in Schutzhaft. Im Gefängnis sitzend erreichte ihn die Nachricht seiner Wahl in die Stadtverordnetenversammlung. Marburg wählte zwar überwiegend die Nazis, dennoch konnten die Kommunist*innen erstmals seit 1924 wieder einen Sitz gewinnen. Den Sozialdemokrat*innen gelang es, alle ihre Mandate zu halten. Hier wurden insgesamt 77 Sozialdemokrat*innen und Kommunist*innen inhaftiert.

Ende März 1933 wurden die Kommunisten Willi Bröckler, Hans Kneip, Heinrich Schneider, Ernst Wagener und weitere namentlich unbekannte KPD-Mitglieder im Zuge einer Flugblattaktion verhaftet. Hilde Hobohm wurde hier einen Tag festgehalten, da sie einen kommunistischen Freund über dessen bevorstehende Verhaftung informierte. Hinzu kamen sieben Theologiestudenten, die 1938 einen offenen Brief gegen die faschistische Kirchenpolitik verfassten. Sie waren zwei Wochen hier in Schutzhaft bevor im Herbst 1938 das Sondergericht Kassel ein Verfahren eröffnete. Das Verfahren wurde zwar eingestellt, allerdings bekamen die Studenten ein Studierverbot an allen deutschen Hochschulen.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Kommunist*innen
Reichstagsbrand
Rote Hilfe
SA
Schutzhaft
Sozialdemokrat*innen

18. Friedrichsplatz

Friedrichsplatz 15, 35037 Marburg, DE

Der Friedrichsplatz wurde im 19. Jahrhundert angelegt. Er hatte vor allem repräsentative Funktion. 1933 wurde dieser Platz durch das faschistisch dominierte Stadtparlament in „Adolf-Hitler-Platz“ umbenannt.

Bis 1945 fanden hier zahlreiche Aufmärsche und Kundgebungen verschiedener faschistischer Verbände statt. Es war eine der ersten Maßnahmen nach der Befreiung von Krieg und Faschismus, diesen Platz wieder in Friedrichsplatz umzubenennen.

Angesichts der Vergangenheit dieses Platzes forderten die Marburger Friedensbewegung und der DGB seit Anfang der 1980er Jahre, diesen Platz in „Friedensplatz“ umzubenennen. Diese Umbenennung sollte als Mahnung und Symbol inmitten des Kalten Kriegs dienen. Hier fanden zum Antikriegstag am 1. September Kundgebungen des Marburger Friedensforums und des DGB statt. Heute werden diese am 1999 errichteten ->Deserteursdenkmal veranstaltet.

In Ermangelung eines entsprechenden Beschlusses der Marburger Stadtparlamentes benannten die Marburger Friedenskräfte den Platz am 28. März 1985, am 40. Jahrestag der Befreiung Marburgs, in eigener Initiative in „Friedensplatz“ um.

2021 wurde in Gedenken an die Opfer rassistischer Gewalt das Mahnmal „Memoria“ installiert und die Umbenennung der Bismarckstraße in Mercedes-Kierpacz-Straße gefordert. Der Anlass war der erste Jahrestag der rassistischen Morde von Hanau vom 19. Februar 2020. Mercedes Kierpacz war eines der Opfer von Hanau. Zwei Monate später wurde das Mahnmal zerstört und wieder aufgebaut. Seitdem wird es immer wieder beschädigt und immer wieder von Marburger Antifaschist*innen neu errichtet.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Antikriegstag
DGB
Friedensbewegung
Morde von Hanau

19. Deserteursdenkmal

Frankfurter Straße 7, 35037 Marburg, DE

Am 1. September 1999 (Antikriegstag) wurde dieses Denkmal zu Ehren der Deserteure des 2. Weltkriegs errichtet.

Inmitten der 1938 gebauten Wehrmachtskasernen und des gegenüberliegenden ->Kämpfrasens hat das seit den 1980er Jahren umstrittene Denkmal nun seinen Platz.

Die Marburger Geschichtswerkstatt wollte damals an die Todesurteile für Deserteure erinnern. Das Marburger Militärgericht hatte seinen Sitz seit 1939 in der Lutherstraße 9. Es wurden mehr als 100 Todesurteile gesprochen, die auf dem heutigen Stadtwaldgelände mit Erschießungen vollstreckt wurden.

Ähnlich erging es allen Deserteuren, Selbstverstümmlern, Saboteuren, Befehls- und Wehrdienstverweigern. Insbesondere im Fall der Selbstverstümmelung wurde regelmäßig gefoltert, um Geständnisse zu erpressen. Die NS-Militärjustiz verurteilte etwa 1,5 Mio. der ca. 20 Mio. Soldaten. 23.000 Soldaten wurden mit dem Tod bestraft. Wie enorm diese Zahl ist, wird im Vergleich zum 1. Weltkrieg deutlich. In diesem wurden insgesamt 48 Todesurteile gegen Soldaten vollstreckt.

Der Marburger Rechtsprofessor Erich Schwinge war von 1941 bis 1945 Kriegsrichter der Division 177. Er arbeitete später erneut als Rechtsprofessor im juristischen Institut im ->Landgrafenhaus. Von 1941 bis zum Kriegsende fällt Schwinge Urteile oder klagt an. Allein zwischen Januar 1944 und Februar 1945 unterzeichnete er sieben Todesurteile und beantragte neun weitere als Ankläger, zuletzt am 9. Februar 1945, drei Monate vor Kriegsende.

Der Angeklagte hatte sich in seiner Verzweiflung Petroleum gespritzt, um so seinen Einsatz als Soldat verhindern. Wegen „Zersetzung der Wehrkraft“ wird dem jungen Soldaten der Prozess gemacht. In der Urteilsbegründung schreibt Schwinge: „Der Angeklagte hat sich in höchst kritischer Situation dem Abgang an die Front entzogen, und er hat damit seinen Kameraden ein sehr gefährliches Beispiel gegeben. Einer solchen Pflichtwidrigkeit kann im Interesse der Manneszucht nur mit dem schärfsten Strafmittel, der Todesstrafe, begegnet werden.“

Das Denkmal ist all jenen Opfern des deutschen Faschismus gewidmet, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht oder nicht mehr am Krieg beteiligen wollten.

1989 wurde es im Schülerpark neben dem Kriegerdenkmal aufgestellt, vom Bauhof wieder entfernt und an verschiedenen Stellen erneut aufgestellt, so z.B. vor dem ehemaligen ->Amtsgerichtsgefängnis und dem Hörsaalgebäude.

1999 bekam es nach Beschluss des Stadtparlaments seinen festen Platz unter wütendem Protest der bis heute unbelehrbaren Kameradschaft Marburger Jäger, deren Vorsitzender schrieb:

„Ein derartiges Denkmal ist ein Schlag in das Gesicht unserer Väter und Großväter, Desertion und Deserteursverrat haben so manchen deutschen Soldaten das Leben gekostet. Ich lehne dieses Denkmal aus tiefster Überzeugung ab.“

Am 21. Juni 2007 sagte Ludwig Baumann anlässlich der Eröffnung einer Wanderausstellung zur NS-Militärjustiz: „Als Wehrmachtdeserteur habe ich nach Todeszelle und KZ im Strafbataillon an der Ostfront den deutschen Vernichtungskrieg miterleben müssen. Was haben wir denn aus unserer Geschichte gelernt, wenn wir heute wieder Kriege führen. Was haben wir denn am Hindukusch militärisch zu verteidigen? Was wäre denn, wenn die ausgebeuteten armen Länder stärker wären und sie würden ihre Interessen bei uns militärisch verteidigen? Wir in diesem reichen Land, von keinem bedroht und mit unserer Geschichte sind aufgerufen zu gewaltfreiem Handeln – sich einzusetzen für Gerechtigkeit, das Leben und den Frieden.“

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Antikriegstag
Marburger Jäger

20. Kämpfrasen

Frankfurter Straße 7, 35037 Marburg, DE

An dieser Stelle befand sich bis zur Kasernenerweiterung 1937 der Kämpfrasen. Hier fanden öffentliche Aufmärsche und Aktionen der Faschist*innen statt. Studentenorganisationen diente er als Schauplatz für den Abschluss der Umzüge anlässlich von Sommersonnwendfeiern. Dabei wurde mystisch an altgermanische Bräuche angeknüpft und gleichzeitig gegen den Versailler Vertrag demonstriert. Ziel war die Rücknahme der Ergebnisse des 1. Weltkriegs, wie Gebietsverluste und Reparationsforderungen und die Errichtung eines „Neuen Deutschlands“.

Der Kämpfrasen, an dem schon in der Frühen Neuzeit Frauen wegen angeblicher Hexerei öffentlich verbrannt worden waren, wurde am 10. Mai 1933 zum Ort der Marburger Bücherverbrennung. Verantwortlich für die „Aktion wider den undeutschen Geist“ waren der korporierte Vorsitzende der Marburger Studentenschaft und Mitglied im Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund Curt Hübner und andere faschistische Studenten, die in einem langen Fackelzug Richtung Kämpfrasen marschierten.

Zahlreiche Marburger*innen sahen dabei zu, wie Bücher, die als „undeutsch“ angesehen wurden, ins Feuer eines riesigen Scheiterhaufens geworfen wurden. In der Oberhessischen Zeitung vom 11. Mai 1933 stand unter der Überschrift: „Scheiterhaufen auf dem Kämpfrasen: Wider den undeutschen Geist!“ folgendes:

„An sämtlichen Hochschulen des Reiches fanden gestern Abend Kundgebungen wider den undeutschen Geist statt, die mit großen Fackelzügen eingeleitet wurden. Auch in Marburg bewegte sich gegen 10 Uhr abends ein riesiger Fackelzug durch die Straßen der Stadt nah dem Kämpfrasen, wo bereits auf den Straßen eine unzählbare Menschenmenge sich eingefunden hatte. Auf der Mitte des Kämpfrasens war ein Scheiterhaufen errichtet, auf dem die undeutschen Schriften den Flammen übergeben wurden.

Zu Beginn der Kundgebung ergriff der Vorsitzende der Marburger Studentenschaft, Student Hübner, das Wort und führte aus, dass der alte deutsche Geist wiederhergestellt werden soll, den die Novemberrevolution hinweggefegt hat. Werft die undeutschen Schriften auf den Scheiterhaufen und zündet ihn an.

Während die Flammen zum Himmel emporlodern, ergriff Referendar Stoevesandt das Wort und führte u.a. aus: Wenn später einmal die Geschichte der nationalen Revolution geschrieben wird, dann werden auch viele Kundgebungen verzeichnet sein. Die Kundgebungen sind geboren aus dem Widerwillen der deutschen Jugend gegen alles Fremde, das 14 Jahre den Deutschen als höchstes Kulturziel vorgesetzt wurde. Wenn wir, die deutsche Jugend, uns als Nationalsozialisten zu dem Grundsatz bekennen, dass es besser ist, tapfer zu leiden und wenn nötig, zu sterben, als knechtlich zu leben, so wollen wir folgerichtig auch dem den Kampf ansagen, was undeutsch ist.

Unter undeutschem Geist verstehen wir jene Art Jugenderziehung, die alles heldische in unserer ruhmreichen Geschichte verbannte. Jene Erzeugnisse von Schriftstellern und Dichtern einer sterbenden Zeit, die dem kleinlichen Menschen ihren zersetzenden Weltanschauungen aufzwingen wollte. Jenes Theaterwesen, das glaubte, ungestraft die Ehre des deutschen Soldaten besudeln zu können und das Andenken von zwei Millionen toten Kameraden zu beschimpfen.

Die Flammen, die zum Himmel jetzt emporlodern, sollen dem echten deutschen Geist zur Wiedergeburt verhelfen. Diese Feier soll ein Gelöbnis für die kulturelle Wiedergeburt sein und, dass wir in Liebe und Verbundenheit zusammenstehen gegen alles Undeutsche. Mit dem Absingen des Horst-Wessel-Liedes hatte die Kundgebung ihr Ende erreicht.“

Heinrich Heine gehörte zu denjenigen Schriftsteller*innen, dessen Bücher bei diesen Aktionen verbrannt wurden. Er hatte 1823 geschrieben: „Dort wo man Bücher ver-brennt, verbrennt man auch am Ende Menschen.“

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Bücherverbrennung
Horst-Wessel-Lied
Korporation/Korporierte
Nationalsozialistischer Deutscher Stundentenbund
Novemberrevolution
Sommersonnwendfeier
Versailler Vertrag

21. Jägerkaserne

Gutenbergstraße 18, 35037 Marburg, DE

Die Geschichte der Stadt Marburg ist eng mit der Geschichte des Militarismus verknüpft. Unmittelbar nach der Eroberung Kurhessens durch Preußen 1866 wurde in Marburg das 11. Preußische Jägerbataillon aufgestellt und ihm durch den Bau der Jägerkaserne 1868 eine feste Unterkunft gegeben. Bis zum 1. Weltkrieg wurden immer größere Teile des Südviertels in diese Baumaßnahmen für den preußischen Militarismus einbezogen. Erst durch den Versailler Vertrag und die darin festgelegten Demobilisierungsmaßnahmen wurde das Jägerbataillon aufgelöst bzw. nach Kassel verlegt.

Der Militarismus blieb jedoch auch nach dem 1. Weltkrieg einer der bestimmenden Faktoren für das politische Klima in Marburg. Zahlreiche Krieger- und Veteranenvereine existierten in der Stadt, Veranstaltungen zum Sedantag, zum Reichsgründungstag und gegen die „Schmach von Versailles“ wurden außerdem von Universität, Student*innenschaft und anderen öffentlichen Organen unterstützt und fanden weit mehr Resonanz als die offiziellen Feiern zum Verfassungstag.

Durch die faschistische Kriegsvorbereitungs- und Aufrüstungspolitik kam wieder Militär nach Marburg. Bereits 1934 wurde ein Ausbildungsbataillon formiert und mit neuen Kasernenbauten begonnen. 1937 waren die neuen Kasernen auf dem ->Kämpfrasen fertig, 1938 auch die Tannenbergkaserne. Finanziert wurden diese Bauten unter anderem dadurch, dass Gelder für die Verbesserung der Wohnqualität in der Stadt gestrichen und für den Kasernenbau umgewidmet wurden.

Ab 1945 wurde das Gebäude von der Universität benutzt. Hier lehrte Wolfgang Abendroth. Er war als Anhänger der kommunistischen Arbeiter*innenbewegung im Zuchthaus und Widerstandskämpfer auf Seiten griechischer Partisan*innen. 1951 wurde er Direktor des Instituts für Politikwissenschaft. Der „Partisanenprofessor“ Abendroth hatte maßgeblichen Einfluss auf Marburgs Ruf als „rote Hochburg“ und beeinflusste viele künftige Funktionär*innen in Gewerkschaften und linken Parteien. Durch sein Wirken etablierte sich die marxistisch geprägte „Marburger Schule“ der Politikwissenschaft, die Mitte der 2000er Jahre abgewickelt wurde.

Im Zusammenhang mit der Wiederbewaffnung der BRD und der Aufstellung der Bundeswehr erhielt Marburg im November 1956 erneut Militäreinheiten. 1994 zog die Bundeswehr aus Marburg ab und die Kasernen wurden zivil weitergenutzt.

Von 1949 bis 2007 beherbergte die Jägerkaserne neben dem Fachbereich Psychologie der Philipps-Universität ein selbstverwaltetes internationales Student*innenwohnheim, das später den Namen „Collegium Gentium Pablo Neruda“ bekam. Nach dem 2. Weltkrieg als Beitrag zur Völkerfreundschaft gegründet, wurde es nach dem faschistischen Putsch in Chile nach dem großen chilenischen Dichter und Antifaschisten Pablo Neruda benannt.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Arbeiter*innenbewegung
Kurhessen
Preußen
Schmach von Versailles
Sedantag
Versailler Vertrag
Wiederbewaffnung

22. Heinrich-Abel-Haus

Schulstraße 10, 35037 Marburg, DE

1934 kaufte die NSDAP-Kreisleitung dieses Haus, nachdem ihr Haus im Pilgrimstein 29 für unzureichend befunden wurde. Gleichzeitig wurde die Straße in Otto-Böckel-Straße (->Alte Universitätsbibliothek) umbenannt. Das „Braune Haus“ wurde 1935 eingeweiht und nach dem jungen SA-Mann Heinrich Abel benannt, der in der „Kampfzeit“ der NSDAP vor 1933 gestorben war und von den Faschist*innen zum Märtyrer überhöht wurde.

Im Gebäude befanden sich die Ortsgruppenleitung und das NSDAP-Kreisgericht. Am 28. März 1945 wurde die Parteizentrale von der Parteileitung verwüstet, um keine Beweise für die einmarschierenden US-Amerikaner zu hinterlassen.

Die Marburger NSDAP wurde 1925 mit elf Mitgliedern offiziell gegründet. Bis Ende 1928 wuchs die Mitgliederzahl auf lediglich 37. Erst Ende 1930 konnte sie dank großzügiger materieller Unterstützung aus der Wirtschaft verstärkt Propaganda betreiben und auch in Marburg einen großen Mitgliederzuwachs verzeichnen. 20 % der Marburger NSDAP-Mitglieder waren Studenten. Reichsweit traf dies lediglich auf 1 % der Mitglieder zu.

Sie stellten auch den größten Teil der Marburger SA, die mehrere Saalschlachten inszenierte. Im Oktober 1930 berief die NSDAP eine Veranstaltung in Frankenberg ein. Das ->Hessische Tageblatt berichtet von dem Ausbruch einer Saalschlacht, als ein antifaschistischer Diskussionsredner „das gesamte Lügengebäude der Referenten zusammenriß“. Im Februar 1931 schlug die SA mit tatkräftiger Hilfe der Marburger Polizei eine Gruppe Erwerbsloser auf ihrer NSDAP-Veranstaltung zusammen. Auslöser war die Bemerkung, dass die Eintrittspreise für eine vermeintliche Arbeiterpartei überhöht wären.

Am Sonntag darauf organisierten das SPD-nahe Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und der KPD-nahe Kampfbund gegen den Faschismus eine antifaschistische Demonstration, zumal die NSDAP eine Veranstaltung in Ockershausen am Folgetag angekündigt hatte. Die Arbeiter*innensiedlung war eine Hochburg der Marburger Linken.

In Ockershausen wurden die Nazis mit antifaschistischen Parolen empfangen und ein großer Teil der 400 Veranstaltungsbesucher*innen bestand aus Antifaschist*innen. Nachdem ein Redner die antifaschistische Demonstration als „Schweineherdenzug“ bezeichnete, äußerte sich lautstarker Widerspruch, woraufhin die SA mit Stühlen, Totschlägern und anderen Waffen den Saal räumte. Das rief wiederum weitere entschlossene Arbeiter*innen aus der Nachbarschaft auf den Plan, sodass die Faschist*innen erst eine Stunde später unter Polizeischutz in die Stadt geleitet werden konnten.

Was die Parteizeitung der NSDAP als einen „in mustergültiger Disziplin vollzogenen Abmarsch“ bezeichnete, war ein mit Wurfgeschosshagel begleiteter Rausschmiss, in dessen Folge die Faschist*innen bis zum Rudolphsplatz verfolgt und immer wieder attackiert wurden. Die Auseinandersetzung wurde als „Schlacht vom Bachweg“ bekannt.

Die in Frankfurt am Main erscheinende sozialdemokratische „Volksstimme“ schrieb: „Der Nazi-Hochburg Marburg kann versichert werden, daß die Arbeiterschaft nichts unversucht lassen wird, in Zukunft ihr Leben vor der braunen Mordpest selbst zu sichern.“

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
SA

23. Cilly-und-Jakob-Schäfer-Haus

K7 9, 35037 Marburg, DE

Dieses Haus trug den Namen der Marburger Kommunist*innen und Antifaschist*innen Cilly und Jakob Schäfer. Es war bis 1990 das Parteihaus der DKP.

Jakob Schäfer hat die illegale Arbeit der Marburger KPD-Gruppe lange Zeit mitgeleitet und darüber hinaus Kontakte zu sozialdemokratischen und parteilosen Arbeiter*innen gehalten, um sie von der Notwendigkeit des gemeinsamen Kampfes gegen den Faschismus zu überzeugen. Er war Abgeordneter im Hessischen Landtag.

Jakob war mit Cäcilie (genannt Cilly) Schäfer verheiratet. Im 1. Weltkrieg wurde sie bei den Naturfreunden und der Freien Sozialistischen Jugend politisch aktiv und war ab 1920 Mitglied der KPD. Ein Jahr später heiratete sie Jakob Schäfer. 1932 erhielt sie ebenfalls ein Mandat für den hessischen Landtag und war die einzige Frau unter den insgesamt sieben KPD-Abgeordneten. Nach der Machtübernahme der NSDAP kamen beide zunächst in Haft. Sie zogen danach in den Alten Kirchhainer Weg 42, wo sie ihre Wohnung für illegale Treffen der KPD nutzten. So diente z.B. die Feier zu Jakob Schäfers 50. Geburtstag 1940 als Tarnung für eine Funktionär*innenversammlung der hessischen KPD.

In Zusammenhang mit dem vereitelten Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944 wurden Jakob und Cilly Schäfer zum wiederholten Male verhaftet und ins Konzentrationslager Sachsenhausen bzw. ins Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück gebracht. Jakob wurde auf einem Todesmarsch nach Mecklenburg befreit, Cilly überlebte die Todesmärsche der letzten Kriegstage. Beide kehrten nach Marburg zurück, wo sie sich bis zum Beginn der Restauration aktiv am demokratischen Neuaufbau in Marburg beteiligten. Cilly wirkte in der Marburger Spruchkammer an der Entnazifizierung mit, trat jedoch zurück, da dort nicht die Hauptverantwortlichen verfolgt wurden.
Sie gründete mit acht Frauen den „Überparteilichen Frauenausschuss“, der praktische Hilfe aber auch antifaschistische politische Bildung betrieb. Dort beteiligten sich hunderte Frauen.

Aber auch in der neuen Republik zog bald der antikommunistische Geist wieder ein, sodass Cilly sich aus dem Frauenausschuss zurückzog, um dessen Arbeit nicht mit ihrer KPD-Mitgliedschaft zu belasten.

Jakob und Cilly waren an der Gründung der VVN 1947 beteiligt (Cilly wurde Vorsitzende) und in der Deutschen Friedensunion aktiv gegen die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik. 1950 rückte Cilly für die KPD in die Marburger Stadtverordnetenversammlung nach.

Nachdem die KPD 1956 verboten wurde, führte sie die illegale Arbeit fort. 1968 traten Jakob und Cilly in die DKP ein. Cilly wurde mit der Ehrenmedaille des deutschen Widerstands ausgezeichnet. Im Marburger Stadtwald ist heute eine Straße nach ihr benannt. Jakob Schäfer starb 1971 während eines Kuraufenthalts in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (ČSSR), Cilly Schäfer 1981 in Marburg.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Anschlag auf Hitler am 20. Juli 1944
Antikommunismus
DKP
Entnazifizierung
KPD
Naturfreunde
NSDAP
Restauration
Wiederbewaffnung

24. Fronhof & Landgrafenhaus

Universitätsstraße 3, 35037 Marburg, DE

In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 wurde die Marburger Synagoge niedergebrannt. Kurz vorher verließen Nazis das SA-Lokal im Fronhof, gleich gegenüber der Synagoge, um das im Landgrafenhaus deponierte Petroleum abzuholen und den Brand zu legen. Im Landgrafenhaus befindet sich heute das Juristische Institut der Universität, indem von 1936 bis 1940 Prof. Erich Schwinge lehrte.

Schon 1933 war er Zellenleiter im „Bund nationalsozialistischer deutscher Juristen“. 1936 trat er mit einem besonders scharfen Kommentar zum Militärstrafrecht hervor. Pazifist*innen sind in seinen Schriften „Minderwertige“ sowie „ethisch defekte und fanatische Psychopathen“. Schwinge kümmerte sich in seinen Veranstaltungen der NS-Zeit besonders um „die Asozialen im neuen Staat“ und um die Kriegsgerichtsbarkeit. Wenige Tage vor Kriegsende verurteilte er als Kriegsrichter den 17-jährigen Grenadier Anton Reschny wegen eines geringfügigen Diebstahls bei Aufräumarbeiten nach einem Luftangriff in Wien zum Tode.

In Marburg wird er nach 1945 bis zu seiner Pensionierung Rechtsprofessor, später Dekan und zweitweise sogar Rektor. Daneben verteidigte er andere Kriegsverbrecher.

1973 geben Kolleg*innen eine Festschrift zu seinem 70. Geburtstag heraus. Dort heißt es zynisch: „Seine vielen Veröffentlichungen haben die Lehren des Verfassers von der Freiheit des Menschen, die Freiheit seiner Würde, der Gedankenfreiheit und der überragenden Bedeutung eines Rechtsweges in weite Kreise getragen“. 1984 verhinderte antifaschistischer Protest, dass Schwinge das Bundesverdienstkreuz verliehen wird.

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Asoziale
SA

25. Garten des Gedenkens

Universitätsstraße 13, 35037 Marburg, DE

An dieser Stelle befand sich die Marburger Synagoge, bis sie am 9. November 1938 in Flammen aufging. Ende des 19. Jahrhunderts war sie gebaut worden, weil die alte Synagoge der rasch gewachsenen jüdischen Gemeinde in Marburg nicht mehr genug Platz bot. Nur 40 Jahre lang bildete dieser prachtvolle Bau den kulturellen und religiösen Mittelpunkt der jüdischen Gemeinde in Marburg.

Zum Vorwand für die Zerstörung in der Reichspogromnacht nahmen die Nazis die Ermordung des deutschen Gesandtschaftsrats in Paris, Ernst Eduard vom Rath durch den Juden Herschel Grynszpan. Aufgrund dieses Mordes, so die faschistische Darstellung, habe ein spontaner Volkszorn das deutsche Volk ergriffen und zu den Pogromen geführt.

Wie wenig spontan in Wirklichkeit dieser „Volkszorn“ war, belegen die Prozessakten der Marburger Staatsanwaltschaft gegen die Brandstifter aus dem Jahr 1947: Demnach versammelte sich am Abend des 9. November 1938 die SA im Sturmlokal Fronhof, um den alljährlichen Appell zur Erinnerung an den missglückten Hitlerputsch 1923 in München durchzuführen. Im Laufe der Nacht erschienen der damalige SA-Brigadeführer Vielstich und der SA-Standartenführer Stollberg im Sturmlokal (1. Stock ->Fronhof). Per Befehl durfte keiner der Anwesenden SA-Männer das Lokal verlassen. Der SA-Standartenführer gab dem damaligen Führer des SA-Sturms III Jäger 11 daraufhin den Befehl, die Synagoge in Brand zu setzen.

Bei der Planung übersahen die Nazis, dass der in der Synagoge wohnende Hausmeister kein Jude war. Als dies der SA während der Brandstiftung bewusst wurde, versuchten sie seine Möbel zu retten. Einige Theologiestudenten nutzten das dabei entstandene Durcheinander, um die Thorarollen aus der Synagoge zu retten und in Sicherheit zu bringen. Die Rollen wurden bis zum Kriegsende in der Religionskundlichen Sammlung der Universität Marburg versteckt und dann an die Jüdische Gemeinde in Marburg übergeben.

Die Feuerwehr verhinderte den Funkenflug auf die Häuser der Untergasse, nicht aber das Abbrennen der Synagoge. Bereits am nächsten Tag wurde die vollständig ausgebrannte Synagoge abgerissen, damit die Ruine nicht zum Mahnmal würde. Von diesem Tag an lebten die Jüd*innen in Marburg nur noch unter Ausnahmerechten.

Fünf Jahre zuvor, am 30. März 1933, erklärte die israelitische Gemeinde Marburg in Unkenntnis der Barbarei, die noch folgen sollte: „Wahrheitsgemäß und aus innerem Bedürfnis heraus erklären wir, daß bis zum heutigen Tage keinem Juden in Marburg auch nur ein Haar gekrümmt wurde (…). In Krieg und Frieden haben sich die Marburger Juden als Deutsche und Marburger gefühlt. (…) Eine große Anzahl der Marburger Juden hat an der Front für Deutschlands Größe gekämpft und geblutet. Die Größe und das neue Erstarken Deutschlands liegt auch ihnen am Herzen.“ Zwei Tage später beginnen in Marburg die Boykottaktion und die verschärfte Verfolgung sowie Vernichtung der Jüd*innen.

2012 wurde der Garten des Gedenkens eröffnet und der Platz würdig umgestaltet. Er ist einerseits Treffpunkt für die jährlichen Gedenkveranstaltungen am Jahrestag des Pogroms aber auch Ort der Ruhe und des Austauschs für Marburger Bürger*innen. Die jüdische Gemeinde Marburgs ist 2003 in die Liebigstraße umgezogen.

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Hitlerputsch
Reichspogromnacht
SA

26. Alte Universität

Reitgasse 2, 35037 Marburg, DE

Wie auch an anderen deutschen Universitäten, dominierten in Marburg die Korporierten das Studierendenleben. So gehörten etwa zwei Drittel der Studierenden Burschenschaften, Corps oder anderen Verbindungen an.

Von ihnen gingen stark antirepublikanische und völkisch-rassistische Impulse aus, die maßgeblich das undemokratische Grundklima an der Universität bestimmten.

Ihre Republikfeindlichkeit zeigte sich bereits 1920, mit der Gründung des Studentenkorps Marburg (StuKoMa). Diese bewaffneten Korporationsstudenten waren bereit, gegen die Institutionen der jungen Republik loszuschlagen. 1920 streikten in Thüringen Arbeiter*innen gegen den faschistischen Kapp-Putsch. Das StuKoMa fuhr zur Niederschlagung der militanten Arbeiter*innenkämpfe ins thüringische Mechterstädt und erschoss dort fünfzehn zuvor gefangen genommene Arbeiter. Die Mörder von Mechterstädt wurden von einem Kriegsgericht freigesprochen. Der Justizskandal wurde in ganz Deutschland bekannt. 2019 wurde zur Erinnerung an das Verbrechen eine Plakette an der Alten Universität angebracht.

Die völkischen Studierenden stießen mit ihrem nationalistischen Auftreten und ihrer antisemitischen Haltung an der Universität kaum auf Widerstand: Die Mehrheit der Professor*innen trauerte dem Kaiserreich nach und hasste die neue Republik, was die jährlich vom Rektorat organisierten „Reichsgründungstage“ zum 18. Januar in der Aula bezeugen. Diese Feiern waren ein Affront, da der Tag der Verabschiedung der Reichsverfassung am 1. August 1919 der eigentliche Reichsfeiertag war. Das völkische Klima an der Marburger Universität, das sie in den 1920er Jahren zur „Hochburg der Reaktion“ machte, wurde für den 1927 gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbund ein Nährboden für seine Agitation. Bei den Gremienwahlen gewann er bereits 1930 die Mehrheit.

Aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums wurden ab 1933 mehrere Professor*innen in Marburg entlassen. Aufgrund ihrer jüdischen Herkunft verloren der Sprachwissenschaftler Hermann Jacobsohn sowie Elisabeth Blochmann, die erste weibliche Professorin für Pädagogik, ihre Lehraufträge. Jacobsohn nahm sich im Anschluss sein Leben. Suspendiert wurden aber auch Oppositionelle Hochschullehrer*innen wie der Ökonom Wilhelm Röpke, weil er das NS-Regime während einer Trauerrede ausdrücklich ablehnte oder der Jurist Alfred Manigk, weil er sich abfällig gegenüber Faschist*innen äußerte.

Ab 1934 wurde das Lehrprogramm der faschistischen Ideologie und später auch den Erfordernissen der Kriegsvorbereitung und -führung angepasst. Aber an der Universität wurde auch Widerstand geleistet. So verteilten die KPD-nahen Freisozialistischen Studenten bis Mitte 1933 die Zeitung „Der rote Student“ und auf dem Verbindungshaus des Marburger Wingolf trafen sich ab 1934 ca. 100 Mitglieder der Studentengruppe der Bekennenden Kirche. Dort wurde überwiegend Theologisches besprochen aber auch dazu beigetragen, die Deutschen Christen in Marburg zurückzudrängen.

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
Korporation/Korporierte
Kapp-Putsch
Nationalsozialistischer Deutscher Studentenbund

27. Herrenmühle

Pilgrimstein 36, 35037 Marburg, DE

Der Rudolphsplatz wurde im Sommer 1933 Schauplatz der ersten größeren faschistischen Terrorakte. Am 26. August 1933 wird der jüdischen Mediziner Jakob Spier mit dem diffamierenden Schild „Ich habe ein Christenmädchen geschändet“ von der SA durch die Stadt getrieben und anschließend in „Schutzhaft“ genommen.

Die SA-Standarte Jäger 11 vollstreckt dies. Um die Aufmerksamkeit zu gewährleisten, begleitete ein SA-Spielmannsumzug die Darstellung faschistischer Macht.

Jakob Spier kam aus einem sozialdemokratischen Elternhaus, auch sein Bruder Markus war im Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold aktiv. 1936 konnten Jakob und Markus in die USA ausreisen.

Neben der Herrenmühle befand sich bis 1973 die „Lahnziege“. Das Denkmal war den Gefallenen des 1. Weltkriegs gewidmet, die Angehörige der Marburger Universität waren. Hier fanden seit 1927 am Tag des gescheiterten Hitlerputschs am 9. November Totenehrungen der Nazis statt. Nach der Umverlegung im Rahmen der Umgestaltung des Rudolphsplatzes wurde es entfernt und der Sockel abgetragen. Seit 1980 lautet die Inschrift „Ihren Toten aus zwei Weltkriegen zum Gedenken. Die Philipps-Universität“.

Nach nochmaligem Umzug steht das Denkmal heute vor dem Hörsaalgebäude und wird eher als dekoratives Element denn als Denkmal wahrgenommen, zumal die Inschrift leicht zu übersehen ist.

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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Hitlerputsch
Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold
SA
Schutzhaft

28. ADGB-Haus/SPD-Büro

Biegenstraße 2, 35037 Marburg, DE

Marburg hatte in den Jahrzehnten nach 1866 keine großen Industriebetriebe. Dennoch fanden sich hier 1912 eine Tabakfabrik, eine Eisengießerei und eine Metallwarenfabrik mit jeweils über 100 Arbeiter*innen. Ohne Großindustrie blieb der Anteil der Arbeiter*innen an der Marburger Bevölkerung gering. Das wirkte sich auch auf die Mitgliederzahl der Gewerkschaften, Arbeiter*innenparteien und der Arbeiter*innenfreizeitvereine der Stadt aus.

Die SPD und der ihr nahestehende Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund (ADGB) teilten sich mit dem Arbeitergesangs- und Arbeitersportverein ein Haus in der Biegenstraße 2. 1991 wurde das Biegeneck unter Polizeischutz abgerissen, um Platz für ein Hotel zu schaffen, was auf großen Protest in der Marburger Zivilgesellschaft stieß.

In diesem Haus waren auch die Büros der Widerstandsorganisation Eiserne Front untergebracht, die reichsweit der SPD nahestand, sich in Marburg jedoch zu einer eher republikanischen Organisation entwickelte und auch von der Deutschen Staatspartei unterstützt wurde.

Die Eiserne Front organisierte immer wieder antifaschistische Demonstrationen und Versammlungen, lehnte es aber bis zu ihrer Zerschlagung 1933 ab, eine Einheitsfront mit dem Kampfverband der KPD zu bilden. Sie setzte auf einen legalistischen Kurs, statt auf die von den Kommunist*innen bevorzugten Massenaktionen. Selbst nach der öffentlichen Ankündigung der Nazis sich die Mehrheit im Reichstag notfalls durch Verfassungsbruch zu verschaffen, vertraute sie auf die Wahlen. In einem Flugblatt hieß es: „Die Kapitalisten haben das bereits begriffen und sich nach einer Schutztruppe umgesehen, sie brauchen den Nationalsozialismus als Sturmbock gegen den Sozialismus. (…) Die Regierung Hugenberg-Hitler ist das letzte Bollwerk des Kapitalismus. Es gilt, diesem Bollwerk am 5. März den Stoß zu versetzen.“

Die Führung des ADGB vertrat 1933 eine illusionäre Stillhaltepolitik gegenüber den faschistischen Machthaber*innen. In diesem Jahr wurde der 1. Mai durch die Nazis zum „Feiertag der nationalen Arbeit“ umgedeutet. Der ADGB rief seine Mitglieder dazu auf, sich an den von der Regierung veranlassten Feiern „festlich zu beteiligen“. Am nächsten Tag wurden im ganzen Reich, so auch in Marburg, die Gewerkschaftshäuser durch die SA besetzt und der ADGB aufgelöst. Der Marburger Gewerkschaftssekretär Heinrich Otto war bereits am 28. Februar bei einer Versammlung in Frankenberg verhaftet und später in das Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert worden.

Die SPD blieb einige Monate länger als die KPD in den Parlamenten. Nachdem die Exilführung der SPD in Prag zum Sturz des NS-Regimes aufgerufen hatte, wurde sie zur „volks- und staatsfeindlichen Organisation“ erklärt und aufgelöst. Am 10. Mai wurden die Räume des Marburger SPD-Büros durchsucht und nach dem Verbot der Partei am 22. Juni wurden zehn Marburger Sozialdemokraten, unter ihnen der Vorsitzende der Ortsgruppe, August Eckel, in Schutzhaft genommen.

Ende Juni 1933 vermerkte ein Bericht, dass alle bekannten Marburger Funktionär*innen sich noch in „Schutzhaft“ befanden und die anderen SPD-Mitglieder sich aus Angst vor der Haft jeder Beteiligung enthielten. Am 6. Juli 1933 wurden vier Abgeordnete bzw. Kandidaten der SPD zum Stadtparlament aufgrund des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen. Ende Oktober schien die Aktivität der SPD völlig erloschen zu sein.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
1. Mai
Arbeiter*innenbewegung
Arbeiter*innenparteien
ADGB
Deutsche Staatspartei
Eiserne Front
Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums
KPD
SA
Schutzhaft
SPD

29. Hessisches Tageblatt

Bunsenstraße 19a, 35037 Marburg, DE

Das Hessische Tageblatt wandte sich gegen nationalistische und völkische Stimmen in der Öffentlichkeit. Das Blatt wurde 1925 von Hermann Bauer, einem Buchdrucker und Mitglied der linksliberalen Deutschen Demokratischen Partei (DDP), herausgegeben und redigiert.

Während die Oberhessische Zeitung, die vom NSDAP-Mitglied und späteren Oberbürgermeister Ernst Scheller herausgegeben wurde, den deutschen Nationalismus und den Aufstieg der Faschist*innen verharmloste, wurden diese Tendenzen vom Hessischen Tageblatt scharf kritisiert. Die Zeitung unterstützte auch die Eiserne Front durch Annoncen und Artikel.

Auch nach dem 30. Januar 1933 hielt sich das Hessische Tageblatt mit Kritik am deutschen Faschismus nicht zurück. 1934 wurde Bauer verhaftet, weil er die in der ->Alten Universität gehaltene Rede des Vizekanzlers Franz von Papen verbreitet hatte. Darin kritisierte dieser „revolutionäre Elemente“ und die Intellektuellenfeindlichkeit in der Partei, betonte aber gleichzeitig, dass „anständige Kritik“ nur von jemandem kommen könne, der sich „ohne Vorbehalte dem Nationalsozialismus und seinem Werk zur Verfügung gestellt hat und ihm seine Loyalität bewiesen hat“. Obwohl es sich nicht um eine antifaschistische Rede hielt, wurde die Publikation verboten.

Am 14. März 1933 wurden ihre Druckerei und die Redaktionsräume durch die SA besetzt und die Herausgabe der Zeitung verhindert. Nach dem unmittelbaren Eingriff folgte eine Zeit des ökonomischen und politischen Boykotts des Hessischen Tageblatts. Ein Anzeigenstopp wurde durchgesetzt und der Magistrat kündigte die Verträge mit der Zeitung. Leser*innen wurden unter Druck gesetzt, die Zeitung abzubestellen, was dazu führte, dass die Zeitung am 29. April aufgrund finanzieller Schwierigkeiten ihr Erscheinen einstellen musste. Hermann Bauer wurde daraufhin mehrmals verhaftet und in Konzentrationslagern festgehalten. Das Zeitungsmonopol hatte daraufhin die profaschistische Oberhessische Zeitung.

Bauer überlebte die faschistische Herrschaft und engagierte sich nach dem 2. Weltkrieg im Staatspolitischen Ausschuss. Zu dessen Hauptaufgaben zählten die Säuberung der Stadtverwaltung von faschistischen Einflüssen und die Aufnahme der Arbeiten des Stadtrats, der von der NSDAP abgeschafft worden war. Der Stadtrat hatte die Funktion der Stadtverordnetenversammlung in der Übergangszeit zu den Kommunalwahlen in Hessen 1946 inne.

Seine Tätigkeit als Herausgeber und Journalist nahm Hermann Bauer zusammen mit dem Sozialdemokraten Karl Bremer schon 1945 wieder auf. Die von beiden herausgegebene „Marburger Presse“ war die zweite hessische Zeitung, die im befreiten Deutschland erscheinen konnte.

Bauer war Mitglied der FDP, verließ die Partei allerdings wieder, da sie in der Nachkriegszeit häufig ein Sammelbecken der alten Faschist*innen war. 1977 erhielt Bauer das Bundesverdienstkreuz in Anerkennung seiner Verdienste um den demokratischen Neuaufbau.

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Glossar:
https://marburg.vvn-bda.de/glossar-stadtrundgang/

Glossarbegriffe des Abschnitts:
Eiserne Front
Deutsche Demokratische Partei (DDP)
FDP
NSDAP
SA
Staatspolitischer Ausschuss

30. Denkmal für die Opfer der Marburger Jäger

Marburg, DE

Die Marburger Jäger waren, ob als Truppe oder als Freiwillige, in einer Vielzahl von Gewalt- und Gräueltaten involviert. Sie beteiligten sich an der Niederschlagung der Pariser Commune (1871) und des Boxeraufstands (1900) sowie am Genozid an den Herero und Nama im heutigen Namibia (1904). Sie richteten zu Beginn des 1. Weltkriegs ein Massaker mit 764 toten Zivilist*innen in Dinant aus und erschossen 1919 mindestens 16 Menschen bei Arbeiter*innendemonstrationen in Chorzów (damals Königshütte, Oberschlesien).

Nach dem 1. Weltkrieg wurden die Marburger Jägerbataillone aufgelöst. Die Reste der Truppe beteiligten sich an den Vorbereitungen zum Kapp-Putsch und an den Morden von Mechterstädt.

Die Kameradschaft finanzierte 1923 das „Jägerdenkmal“ im Ludwig-Schüler-Park und widmete es den 4.012 Kriegstoten aus den eigenen Reihen. Hier fanden jährlich Erinnerungsfeiern statt.

Nach der Machtübertragung an die Faschist*innen 1933 stellte sich die Marburger SA in die Jägertradition. Unter den Namen „SA-Standarte Jäger 11“ verübte sie ihre Verbrechen. Mit der Befreiung vom 8. Mai 1945 verboten die Alliierten die SA und die weiterhin bestehenden Traditionsvereine der Marburger Jäger.

Später entstanden Bundeswehrtraditions- und Reservistenvereinigungen, darunter auch die Kameradschaft Marburger Jäger, die sich vorbehaltlos in die Jägertradition stellen. Sie verweigern sich bis heute der ernsthaften Auseinandersetzung mit den dunklen und verbrecherischen Kapiteln der Jägergeschichte.

Das bewiesen sie 2011, als im Marburger Stadtteil Bortshausen ein Denkmal für die Marburger Jäger in einem privaten Garten aufgestellt wurde. Es folgte zivilgesellschaftlicher Protest, u.a. führte der Marburger Ostermarsch am Denkmal vorbei. Die Aufforderung der Kommune den Stein zu entfernen, wurde durch das Verwaltungsgericht für ungültig erklärt. Der Protest führte aber dazu, dass die Stadtverordnetenversammlung eine Studie zu den Marburger Jägern in Auftrag gab.

Die Stadt hat sich 2014 zum 100. Jahrestag des Massakers von Dinant öffentlich entschuldigt und 2016 eine Gedenkinstallation für das Denkmal im Ludwig-Schüler-Park beschlossen. Am 1. September 2021 wurde es eingeweiht und umgibt das alte Denkmal zum Teil. Im Inneren der Installation finden sich Hinweise zu den Verbrechen der Marburger Jäger, dahinter findet sich erst das ursprüngliche Denkmal.

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Glossar:
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Glossarbegriffe des Abschnitts:
Boxeraufstand
Genozid an den Herero und Nama
Kapp-Putsch
Marburger Jäger
Morde von Mechterstädt
Pariser Commune
SA