Rämistrasse 71, 8006 Zürich, CH
Marie Heim-Vögtlin ist 22 Jahre alt, als sie sich mit dem Wunsch eines Medizinstudiums an ihren Vater wendet. Dieser ist zu Beginn schockiert und stellt sich dagegen, doch nach und nach bröckelt seine anfängliche Abwehr und er unterstützt sie tatsächlich in ihrem Vorhaben. Damit sie 1868 das Studium beginnen kann, muss er eine schriftliche Bewilligung einholen. Doch weshalb traf Maries Ziel, welches aus heutiger Sicht zwar ehrgeizig, aber keinesfalls unpassend erscheint, auf so grossen Widerwillen in der Gesellschaft? Ein Grund dafür ist, dass einer der einzigen möglichen Berufe für Frauen bis ca. 1874 der der Lehrerin war, und sie auch erst in diesem Jahr die Zulassung zum Unterrichten erhalten haben. Somit hatten Frauen trotz weniger Ausbildungsmöglichkeiten keine oder wenige Berufsperspektiven. Aus diesem Grund entschieden sich viele gegen eine Ausbildung, da sich eine solche im damaligen Kontext wirtschaftlich und finanziell nicht rentiert hätte. 1870 meldeten sich sowohl Männer als auch Frauen für den ersten eidgenössischen Telegraphenkurs, welcher als Folge zur Einführung der Lehre als Postbeamt*in angeboten wurde, an. Da sich die Männer aber von der überdurchschnittlich guten Leistung der Frauen in diesem Kurs bedroht gefühlt hatten, wurden diese 1888 schliesslich wieder aus dieser Ausbildungsmöglichkeit ausgeschlossen. Auch der soziale Stand der Frau in der Schweizer Gesellschaft im 19. Jahrhundert ist zu beachten: einher mit der Gründung des Bundesstaates wurden die Geschlechterrollen neu ausgelegt und rechtlich stärker definiert. Mit der politischen Integrierung aller Männer, wenn auch nicht in allen Bevölkerungsschichten gleich stark, kommt die völlige Ausschliessung aller Frauen. Zugleich wird eine Idealvorstellung der „Schweizer Hausfrau“ beworben. Der Mann ist zuständig für das Einkommen und beschäftigt in der Erwerbsarbeit, während der Frau der Haushalt und die Kinderbetreuung zugeteilt wird. Dies kommt zusätzlich zum Ausdruck bei Betrachtung des Lerninhalts an Mädchenprimarschulen im 19. Jahrhundert, an welchen Unterrichtsfächer wie Handarbeit viel Platz einnahmen. So wurde den Mädchen von Beginn an beigebracht, wie ein Haushalt «richtig» zu führen war. Zusammenfassend kann man also sagen, dass eine Vielzahl von einerseits gesellschaftlich sozialen, wie auch ökonomischen Faktoren Frauen das Erlangen von höherer Bildung massgeblich erschwerten. Zurück zu Marie an der Universität Zürich. Gerade auch während des Studiums hatte sie, wie auch ihre Kommilitoninnen, mit Diskriminierung und Widerstand von Mitstudenten und Professoren zu kämpfen. Die Vorstellung, Frauen seien rein körperlich zu schwach für ein Studium und würden den hohen Ansprüchen der Universitäten nicht genügen, war vorherrschend. Dies sollte sich auch in Leipzig und Dresden, wo sie 1873 nach bestandenem Examen ihre Assistenzzeit ablegte und sich zur Gynäkologin spezialisierte, fortführen. Schliesslich promovierte sie 1874 und wird zur ersten Dr. med. in der Schweiz. Auf die erste Frau Doktor wartet viel Grosses.
(Interview von Sophie und mir)