Sowjetische Gefangene im KZ Neuengamme

Tour Jean-Dolidier-Weg 75, 21039 Hamburg, DE

Unter den 100.000 Häftlingen, die im Lagerkomplex Neuengamme inhaftiert waren, waren mindestens 23 000 Männer und Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion. Viele von ihnen wurden hier ermordet. In sechs Stationen hier auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte erfahren Sie mehr über diese Menschen und ihr Schicksal.

Autor: KZ-Gedenkstätte Neuengamme

6 Stationen

Intro

Jean-Dolidier-Weg 75, 21039 Hamburg, DE

Unter den 100.000 Häftlingen, die im Lagerkomplex Neuengamme inhaftiert waren, waren mindestens 23 000 Männer und Frauen aus der ehemaligen Sowjetunion. Viele von ihnen wurden hier ermordet.
Ich bin Ulrike Jensen und begleite Sie heute zu sechs Stationen hier in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, an denen ich Ihnen etwas über diese Menschen und ihr Schicksal erzählen möchte.
Zunächst möchte Ihnen einen Überblick geben:
1939 besetzte Deutschland Polen. Die Besatzer deportierten polnische Soldaten und Zivilisten in deutsche Konzentrationslager. Dann - am 22. Juni 1941 - fielen die Truppen der deutschen Wehrmacht auch in die Sowjetunion ein. Wie es in der Propaganda der Nationalsozialisten hieß, hatte Deutschland damit den Vernichtungskampf gegen die Sowjetunion begonnen.
Die ersten sowjetischen Gefangenen kamen bereits im Sommer 1941 hier im KZ Neuengamme an. Der Krieg gegen die Sowjetunion spielte sich nun nicht mehr nur irgendwo im fernen Osten ab. Er fand quasi vor der Haustür statt. In der rassistischen Ideologie der SS standen Menschen aus der Sowjetunion ganz unten. Im KZ Neuengamme wurden schwere Verbrechen an ihnen begangen.
Ende August 1941 erschoss die SS im KZ Neuengamme beispielsweise 48 Soldaten der Roten Armee, die zur Tötung ausgewählt worden waren, weil sie Juden waren.
In einem Schreiben des Chefs der Sicherheitspolizei Reinhard Heydrich hieß es dann im Oktober 1941: „Gemäß Befehl […] werden nunmehr neben den zur Exekution bestimmten sowjetrussischen Kriegsgefangenen auch Sowjetrussen zu Arbeitszwecken in die Konzentrationslager eingeliefert“.
Damit wurden Millionen Frauen und Männer als sogenannte „Ostarbeiter“ aus den besetzten Gebieten nach Deutschland verschleppt und zur Schwerstarbeit gezwungen. Wenn sie versuchten zu fliehen, brachte die Gestapo sie zur Strafe in Konzentrationslager.
Die ersten sowjetischen Häftlinge im KZ Neuengamme waren aber Kriegsgefangene.
Darüber möchte ich Ihnen an der nächsten Station erzählen. Gehen Sie hierzu über den großen Appellplatz – links sehen Sie Gitter mit Steinen, so genannte Gabionen. Die sechste Reihe vom Eingang aus gesehen symbolisiert den Standort, an dem die SS ein Lager speziell für Kriegsgefangene aus der Sowjetunion einrichtete.

Das Kriegsgefangenen-Arbeitslager

21039 Hamburg, DE

Sie stehen jetzt neben dem Appellplatz an der sechsten Gabione. Hier ist auch eine Infotafel zu sehen. Die Gabionen markieren die Standorte der ehemaligen Häftlingsbaracken. Damals standen an diesen Stellen lange und schmale einfache Holzbauten.
An dem Standort, an dem Sie gerade stehen, trennte die SS im Oktober 1941 eine Baracke mit Stacheldrahtzaun von den übrigen Häftlingsunterkünften ab. Es entstand das sogenannte „Kriegsgefangenen-Arbeitslager“, speziell für inhaftierte sowjetische Soldaten der Roten Armee. Wie viele Menschen mussten hier leben?
Die Baracken waren für 300 Häftlinge gedacht. Aber die SS pferchte hier 1000 Männer in einer Baracke zusammen. Die Soldaten aus der Sowjetunion waren aus dem Kriegsgefangenenlager in Wietzendorf ins KZ Neuengamme gebracht worden.
Ein deutscher ehemaliger Mithäftling erinnerte sich nach dem Krieg: „Dieser gespenstig anmutende Zug von überwiegend jungen, aber durch die Entbehrungen greisenhaft wirkenden Menschen im Alter von etwa 20 bis 30 Jahren durchschritt das Lagertor des Konzentrationslagers, überquerte den Appellplatz und zog in das eigens für sie vorbereitete „Isolierlager“, das hohnvoll die Bezeichnung „Kriegsgefangenen-Arbeitslager“ trug.“
Mindestens 652 dieser Gefangenen überlebten nicht. Das heißt, mehr als jeder zweite starb bis Juni 1942 – die Männer verhungerten oder sie starben an Krankheiten und Verletzungen, die nicht behandelt wurden.
Dabei standen die sowjetischen Kriegsgefangenen, wie alle Kriegsgefangenen, unter dem Schutz der Genfer Konvention. Die Wehrmacht und die SS behandelte sie aber nicht so, wie es vorgeschrieben war. Menschen aus der Sowjetunion wurden absichtlich wesentlich schlechter ernährt und behandelt als andere Gefangene. Sowjetische Soldaten jüdischen Glaubens und politische Kommissare holte die SS sogar gezielt heraus und exekutierte sie.
Über einzelne Mordaktionen an sowjetischen Häftlingen erfahren Sie mehr an unserer nächsten Station: Dem ehemaligen Arrestbunker des Lagers. Die Arrestzellen lagen auf der gegenüberliegenden Seite des Appellplatzes – Sie können sehen, dass heute ein Dach aus Glas den Ort markiert.

Der Arrestbunker

Jean-Dolidier-Weg 107, 21039 Hamburg, DE

Sie stehen jetzt am Standort des sogenannten Arrestbunkers. Von den ehemaligen Arrestzellen des Lagers existieren heute nur noch die Fundamente, geschützt durch ein Glasdach. Sie können die Grundmauern eines Ganges und fünf enge Kammern erkennen. Das großformatige Foto zeigt, wie das Gebäude aussah. Hier sperrte die SS Häftlinge oft tagelang ein.
Im August 1942 wurde eine Gruppe von Krankenschwestern und Ärztinnen der Roten Armee nach Neuengamme gebracht. Sie hatten, so wurde ihnen vorgeworfen, im Kriegsgefangenenlager Sandbostel „politische Gespräche“ geführt. Vermutlich wurden die jungen Frauen hier im Gang zu den Arrestzellen erhängt.
Der Krieg im Osten war inzwischen eskaliert, die Gewaltakte der Deutschen hatten unglaubliche Ausmaße angenommen und die Regierung unter Hitler hatte die sogenannte „Endlösung“ beschlossen, das heißt die Vernichtung aller jüdischen Menschen. Bereits ein Jahr zuvor, im September 1941, hatte die SS in Auschwitz so genannte „Probevergasungen“ durchgeführt: Etwa 600 sowjetische Kriegsgefangene waren die Opfer. Viele der Ermordeten waren ausgewählt worden, weil sie krank oder kriegsversehrt waren.
Auch in Neuengamme ließ die Lagerverwaltung das Giftgas Zyklon B anschaffen. Im September 1942 begann die SS, die Arrestzellen umzubauen: Sie dichtete Wände, Fenster und Türen ab.
Wir wissen von zwei Vergasungsaktionen im Jahr 1942, die hier, in diesem nun abgedichteten Gebäude, stattfanden: Es starben dabei 448 sowjetische Kriegsgefangene. Sie waren aus Fallingbostel nach Neuengamme gebracht worden. Ein ehemaliger Häftling war Zeuge der Aktion: „Das gesamte Lager stand auf dem Appellplatz, weil gerade Appell war. Alle Häftlinge mussten singen: „Willkommen frohe Sänger“, […]. Zur gleichen Zeit fuhren die Leichen der Liquidierten an uns Häftlingen vorbei auf der Lagerstraße zum Krematorium.“
Der Mann, der dies berichtete, hieß Fritz Bringmann. An der nächsten Station möchte ich Ihnen eine weitere Geschichte von ihm erzählen. Gehen Sie dazu in die Hauptausstellung in dem großen Steingebäude. Im Ausstellungsraum zum Thema Außenlager finden Sie Teile einer Original-Holzbaracke.

Sowjetische Gefangene im Lager

21039 Hamburg, DE

Sie sind jetzt in der Hauptausstellung im Raum zum Thema „Außenlager“. Hier sehen Sie, wie die Wände der Baracken aussahen, in der KZ-Gefangene untergebracht waren.
Die sowjetischen Gefangenen standen für die SS auf der niedrigsten Stufe in der Hierarchie des Lagers. Die Sowjetunion war der Feind Nummer 1 im Krieg, slawische Völker galten in der rassistischen Ideologie der Nazis als so genannte „Untermenschen“. Die sowjetischen Gefangenen erhielten aus diesem Grund noch weniger Essen als ihre Mithäftlinge und mussten die schwersten Arbeiten verrichten.
Doch die Häftlinge versuchten auch, Widerstand zu leisten oder sich gegenseitig zu helfen. Dazu möchte ich eine Geschichte erzählen, die mit einem Objekt zu tun hat, dass Sie in einer Vitrine in diesem Raum finden. An der Ausstellungtafel steht als Überschrift „Osnabrück (II. SS-Baubrigade)“. Das Objekt ist ein geschnitztes Blatt aus Holz.
Dieses Objekt hat der ehemalige Häftling Fritz Bringmann der Gedenkstätte übergeben. Er war im KZ als Häftlingssanitäter im Kriegsgefangenen-Arbeitslager eingesetzt gewesen. Er berichtet nach dem Krieg: „Ende Januar 1942 erschien SS-Sanitäter Bahr und gab mir den Befehl des Standortarztes, nicht mehr arbeitsfähige Kriegsgefangene mittels Injektion zu töten. Ohne mögliche Folgen zu bedenken, lehnte ich die Tötung der Kriegsgefangenen kategorisch ab.“
Fritz Bringmann verhinderte die Tötungsaktion seiner Mithäftlinge, weil er sich weigerte, die tödlichen Spritzen zu setzen. Zum Dank schnitzen die so geretteten Gefangenen heimlich für ihn dieses Blatt aus Holz.
Was passierte mit sowjetischen Häftlingen, die die Lagerzeit überlebten? Die Rückkehrer:innen in die Sowjetunion machten oft schlechte Erfahrungen: Ihnen schlug Misstrauen entgegen und der Verdacht, mit den Deutschen kollaboriert zu haben. Viele wurden wieder inhaftiert, in sogenannten Filtrationslagern. Dort sollten sie überprüft werden. Dieses Schicksal traf nicht nur die ehemaligen Soldaten der Roten Armee. Auch die ehemaligen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter berichten, dass sie Probleme hatten, in der Heimat Wohnung, einen Studienplatz oder eine Arbeit zu finden.
Die nächste Station befindet sich in einem anderen Gebäude: Den ehemaligen Walther-Werken. Ich möchte Ihnen dort mehr über Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erzählen.
Wenn Sie sich vorher noch ein wenig in der Hauptausstellung umsehen wollen, empfehle ich Ihnen den Raum „Häftlingsgruppen“. Dort erfahren Sie auch mehr über die „Häftlinge aus der Sowjetunion“ und „Das ‚Kriegsgefangenen-Arbeitslager‘“.

Zwangsarbeit

Jean-Dolidier-Weg 107, 21039 Hamburg, DE

Die ehemaligen Walther-Werke finden Sie, wenn Sie aus der Hauptausstellung heraus kommen und sich nach links wenden Dort sehen Sie ein flaches Gebäude. Eine weißgraue Tür führt in den Ausstellungsraum.
In diesem Gebäude betrieb der Waffenhersteller Carl Walther in der KZ-Zeit die „Metallwerke Neuengamme“ mit mehreren Werkstätten. Gefangene bauten hier Zeitzünder sowie Teile für Pistolen und Karabiner.
Heute ist hier eine Ausstellung über Zwangsarbeit für die Kriegsindustrie untergebracht. Im Krieg brauchte Deutschland Arbeitskräfte und in Hamburg gab es viele kriegswichtige Industrien – zum Beispiel Fabriken, die Metalle oder Erdöl verarbeiteten. 1941 taten sich das Oberkommando der Wehrmacht, die Handelskammer Hamburg und die Arbeitsämter zusammen, um in Osteuropa nach Arbeitskräften zu suchen.
Zivilisten wurden für den Arbeitseinsatz nach Deutschland gebracht: Die Besatzer hatten sie mit falschen Versprechen gelockt oder sie mit Gewalt in Transporte nach Deutschland gezwungen. Millionen von Ostarbeiterinnen und Ostarbeitern kamen so ins Land.
Neonila Kurlyak aus Nikolajew war eine von ihnen. Sie war 16 Jahre alt, als sie nach Deutschland verschleppt wurde. Als ihr Versuche, aus ihrem Arbeitskommando zu fliehen, scheiterten, wurde sie erst in das Frauenkonzentrationslager Ravensbrück und dann in Außenlager des KZ Neuengamme in Wandsbek und Eidelstedt überstellt. Dort musste sie für die Rüstung arbeiten. Neonila Kurlyak berichtete:
„Eine Aufseherin schlug mich einmal mit dem Hammer, sodass mein Gesicht vollständig schwarz war. Und warum? Ich hatte sie angebrüllt. Man reichte Werkstücke zu und ich war zwei Werkstücke hinterher. Dadurch wurde das Fließband etwas aufgehalten.“
Neonila Kurlyak überlebte und kehrte nach Hause zurück, sie starb 2021.
Ehemalige Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter erhielten erst spät eine Entschädigung. Hamburg setzte außerdem ein persönliches Zeichen. Im Jahr 2000 befand der Hamburger Senat, "dass den Millionen Menschen, die während des zweiten Weltkrieges in Deutschland (...) Zwangsarbeit haben leisten müssen, schweres Unrecht zugefügt worden ist." Senat und Bürgerschaft luden ehemalige Zwangsarbeiter:innen aus Russland, der Ukraine, Belarus und aus Polen nach Hamburg ein.
Wenn ehemals Verfolgte oder ihre Angehörigen heute die Gedenkstätte besuchen, tun sie dies häufig, um zu erinnern und zu gedenken. Die nächste Station, die ich Ihnen vorstellen möchte, ist so eine Station des Gedenkens, nämlich das internationale Mahnmal. Das liegt ein ganzes Stück weiter die Straße Jean-Dolidier-Weg hinunter Richtung Norden.

Gedenken

Jean-Dolidier-Weg 39, 21039 Hamburg, DE

Wir stehen nun am Internationalen Mahnmal mit der hohen Stele und dem Haus des Gedenkens. Hier finden Gedenkfeiern statt, wenn zum Beispiel im Mai des Kriegsendes und der Befreiung der Konzentrationslager gedacht wird.
In der KZ-Zeit befand sich hier die Lagergärtnerei. Der KZ-Häftling und Soldat der Roten Armee, Saul Kroner, war dort eingesetzt. Er erinnerte sich: „Einmal haben sie das Kommando, in dem ich war, den Gemüsegarten umgraben lassen. Der Spaten stieß auf angebrannte Knochen. Die Erde war reichlich gedüngt mit der Asche.“
Die SS verbrannte die Toten des KZ Neuengamme ab 1942 in einem lager-eigenen Krematorium. Die Asche verstreuten sie im Gelände. Das bedeutet, dass es heute keine gekennzeichneten Gräber auf dem Gelände gibt, so wie in anderen KZ-Gedenkstätten. Daher ist der Ort des internationalen Mahnmals heute so etwas wie ein symbolischer Friedhof.
Den Toten aus den vielen Ländern ist hier am Mahnmal die sogenannte „Weg der Nationen“ gewidmet. Er führt Sie an einer Mauer entlang zu der hohen Stele und der Skulptur „Der gestürzte Häftling“. Auf den Gedenkplatten, die vor der Mauer liegen, können Sie die Namen der Länder lesen, aus denen die Häftlinge kamen: Es sind 22 Steine.
Hier finden Sie auch den Länderstein mit der Inschrift CCCP, der kyrillischen Abkürzung für „Sowjetunion“. Das Mahnmal wurde 1965 errichtet. Daher werden Sie auch weitere Namen von Ländern lesen, die es heute so nicht mehr gibt.
Tote Häftlinge wurden nicht nur im Krematorium in Neuengamme verbrannt. Auch auf Friedhöfen in Hamburg gibt es Gräberfelder, oft anonym. 652 sowjetische Kriegsgefangene aus Neuengamme sind auf dem Bergedorfer Friedhof bestattet. Die sowjetische Regierung sorgte dafür, dass dort nach dem Krieg Grabsteine aufgestellt wurden.
Hier, in der Nähe des Internationalen Mahnmals, können Sie noch das „Haus des Gedenkens“ besuchen. Dort sind auf weißen Stoffbahnen die uns bekannten Namen der Toten des KZ Neuengamme aufgezeichnet.
Wir sind am Ende unseres Rundgangs angekommen. Vielen Dank, dass Sie sich heute auf diesem Audio-Rundgang mit der Geschichte der sowjetischen Häftlinge im KZ Neuengamme beschäftigt haben.

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